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akLogo   ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 449 / 12.04.2001

Kindsraub und Gitarrenklänge

Rassistische Bilder von Sinti und Roma
in deutschen Kinder- und Jugendbüchern

Einer der traditionellen Aufgabenbereiche der Kinder- und Jugendliteratur ist die Vermittlung kulturspezifischen Wissens und die Verbreitung von Bildern über das Leben anderer. Sie wird dadurch zur Quelle der kulturgeschichtlichen Betrachtung der eigenen Kultur. Im Kinderbuch sollen diejenigen Ideen der Erwachsenen, die sie für die besten und wichtigsten halten, an die nächste Generation weitergegeben werden. In literarischer Darstellung können die Normen und Moralvorstellungen der Zeit auf ungebrochene Weise mitgeteilt werden. So werden bei der Darstellung "Fremder" in Kinder- und Jugendbüchern die gesellschaftlich vorherrschenden Stereotypen auf direkte Weise reproduziert. Ein Beispiel hierfür sind die Bilder von Sinti und Roma, die in der deutschen Kinderliteratur vermittelt werden.

Seit Jahrhunderten erscheinen Sinti und Roma nicht allein in der Literatur als mythische Figuren, als "Zigeuner". Erst seit den 70er Jahren treten sie bisweilen als reale Gestalten, als Sinti und Roma auf, ohne dass sie deshalb die mythischen Figuren völlig abgelöst hätten. Als mythische Gestalt ist der "Zigeuner" als exotisch Fremder typisiert. Der Kulturwissenschaftler Michael Kraustick macht hier drei Formen von Stereotypen aus, die reproduziert werden: erstens positive Klischees, bei denen ein romantisches, musisches, naturnahes, antibürgerliches Wohnwagenleben geschildert wird, als zweites negative Klischees, bei denen das "Zigeunerleben" unheimlich erscheint, die Sinti und Roma dämonisiert und kriminalisiert werden. Als drittes dann das pädagogische Klischee, das missionierend eine Rettung des "Zigeuners" ins Bürgertum oder in eine Künstlerexistenz vorschreibt und meist paternalistisch-bevormundend auftritt. In allen drei Fällen bleibt der "Zigeuner" ohne Chance zur eigenen Entfaltung, ist als mythische Figur unveränderbar festgelegt. Eingesetzt wird die so definierte Figur meist zur Spannungssteigerung und um emotionale und exotische Elemente hinzuzufügen.

Lagerfeuer und Lieder

Als frühen Beleg für eine pauschale Verurteilung der "Zigeuner" in einem Kinderbuch führt der Literaturwissenschaftler Theodor Brüggemann ein Beispiel von 1783 an. Kinder sehen in einem Dorf vorüberziehende "Zigeuner", die als sehr hässlich geschildert werden und fragen daraufhin ihre Tante, ob dies Menschen seien. Diese bejaht die Frage und erklärt den Kindern: "Es ist ein faules Volk, das nicht arbeiten will. Daher ziehen sie aus einem Lande in das andere und ernähren sich vom Betteln, Stehlen, Rauben und Plündern, vom Wahrsagen und anderen betrügerischen Künsten. In den Städten werden sie nicht geduldet. Sie schleichen sich nur so auf den Dörfern herum, und wenn es die Obrigkeit erfährt, so müssen sie fort. Sie sehen darum so hässlich aus, weil sie sich Speck ins Gesicht schmieren."

Der älteste Vorwurf gegen Sinti und Roma, der seit Jahrhunderten nicht nur in Kinder- und Jugendbüchern auftaucht, ist der des Kindsraubs. Die Kindsraub-Erzählungen ähneln sich durch die Jahrhunderte hinweg sehr stark. Fast immer werden Kinder aus gehobeneren Gesellschaftsschichten von "Zigeunern" entführt und zu unwürdigen und unehrlichen Diensten benutzt, gegen die sich die meisten wehren. Selbst wenn sie als Säuglinge entführt werden und bei den "Zigeunern" aufwachsen, macht sich hierin ihre gute und christliche Abstammung bemerkbar. Meist gelangen sie am Ende der Erzählung durch glückliche Zufälle zurück zu den Eltern. Die "Zigeuner" sind in diesen Erzählungen fast immer äußerst negativ dargestellt, meist hässlich, betrügerisch und brutal. Ein häufiges Element in diesen Büchern ist die Missionierung, der sich meist nur die geraubten Kinder öffnen. Dies ignoriert neben allem anderen, dass Sinti in Deutschland meist christlich waren. "Zigeuner", die sich bekehren lassen und ihrem bisherigen Leben abschwören, können in den Büchern dennoch höchstens DienerInnen einer gehobenen Person werden; eine gesellschaftliche Gleichstellung ist für sie nicht erreichbar.

Diese Kindsrauberzählungen hatten besonders im 19. Jahrhundert Hochkonjunktur. Auch 1964 erscheint noch ein besonders extremes Beispiel für dieses Handlungsklischee: Das Zigeunermädchen von Trolly Ann Wulf. Das Buch Die abenteuerliche Reise des kleinen Schmiedledick mit den Zigeunern von Elisabeth Walter erschien erstmals 1930 und wurde mit kleinen Veränderungen zwischen 1951 und 1997 fünfzehn Mal aufgelegt. Schmiedledick, Sohn eines Schmiedes aus dem badischen Hotzenwald, wird von "Zigeunern" entführt, in einen Wagen gesperrt und mittels eines Getränks in Schlaf versetzt: "Als der Schmiedledick so im tiefen Schlaf lag, nahm (die alte Zigeunerin) ein braunes Salbenhäfelein und malte ihn an von oben bis unten, dass er aussah wie ein echter Zigeuner, das Haar, so schön weizengelb es auch war, wurde abgeschnitten und die Stoppeln kohlrabenschwarz gefärbt. An die Beine bekam er zerlumpte gelbe Höslein. (...). ,Sodili`, sprach sie, ,dich können wir gut brauchen, zum Betteln und zum Stehlen.`" Auch im Vorwort zur 1997er-Neuauflage dieser Erzählung wird Walter noch als herausragende Heimatschriftstellerin gelobt.

In der neueren Kinder- und Jugendliteratur seit den 60ern treten Sinti und Roma zunächst als Abenteuerfiguren und fantastische Gestalten auf, die vorwiegend nach malerischen und exotistischen Gesichtspunkten konstruiert werden. Als Beispiel für die Kategorie der Abenteurfiguren kann etwa Enid Blytons Reihe Fünf Freunde gelten. Obwohl die Entstehungszeit der Abenteuerreihe schon beinahe 50 Jahre zurückliegt, sind die Rätsel lösenden Kinder insbesondere als Hörspielbearbeitung noch sehr verbreitet. In mehreren Folgen tritt eine junge "Zigeunerin" auf, die dem Geschehen als Teil des Kriminalfalles einen weiteren aufregenden Aspekt hinzufügen soll. Dabei wird die "Zigeunerwelt" als austauschbares Versatzstück kreiert. Die Typisierung der "Zigeuner" bedient sich aller gängigen Klischees: Sie leben abseits der Mehrheitsbevölkerung, sind dreckig, gehen hausieren, lügen und stehlen. Außerdem sind sie an dem gerade aufzuklärenden Verbrechen meistens unmittelbar beteiligt.

Gleiche Klischees seit 150 Jahren

Im Band Fünf Freunde helfen ihrem Kameraden hilft das "Zigeunermädchen" Jo den fünf HobbydetektivInnen bei ihrem Fall und wirkt dadurch nicht mehr abstoßend wie am Anfang der Handlung, sondern übt durch ihre Andersartigkeit einen Reiz auf die Kinder aus. Und Jo nähert sich ihrerseits den fünf Freunden an: Sie überwindet ihren "kriminellen Kern" und landet schließlich bei einer Pflegefamilie. Es handelt sich also sozusagen um die Fortführung des aufklärerischen Missionierungsgedankens in Form der sozialen Integration.

Ein weiteres beliebtes Abenteuersujet sind die Pferdebücher: In auffällig vielen Kinderbüchern kommen pferdekundige Sinti bzw. Roma vor, die ebenfalls als HelferInnen oder GegenspielerInnen der kindlichen Hauptpersonen auftreten. Gemeinsam ist allen Figuren die Kenntnis von Pferden und die Liebe zu ihnen - je nach Rolle fungieren sie als PferdediebInnen oder als TierliebhaberInnen. Neben der fortwährenden Kriminalisierung fällt das Herausheben der Handlungsebene aus der Realität auf. Die Darstellung von fahrenden und reitenden "Zigeunern" scheint in der modernen Zeit wenig haltbar und wird daher häufig in ein mittelalterliches Setting oder in Ferienländer, also fernab des Alltags der HeldInnen und RezipientInnen, verlegt.

Das Buch Der Wind ist des Teufels Niesen- die Geschichte eines jungen Zigeuners von Dieter Schenk etwa gehört einer weiteren Kategorie neuerer Kinderbücher an, den engagierten Problembüchern. Die Sintis Sarambla und Merzeli werden verdächtigt, in einem Kaufhaus eine Batterie gestohlen zu haben. Astrid ist entrüstet über die Anschuldigungen und kommt ihnen zu Hilfe, indem sie selber die die Batterie nach draußen schmuggelt. So freunden sich Merzelin und Astrid an und Astrid erfährt in der Sintisiedlung mehr über ihren neuen Freund. Sie lernt, dass Sinti im Nationalsozialismus verfolgt und ermordet wurden und bis heute Diskriminierungen erfahren. Das Buch über die Freundschaft zwischen dem Sinti Merzeli und der Musterschülerin Astrid ist in Ansätzen gut. Es führt die allgegenwärtigen Klischees gegen Sinti vor und die jugendlichen LeserInnen lernen mit Astrid dazu. Allerdings kommen teilweise eben als unwahr entlarvten Klischees wieder zwischen den Zeilen hoch. So stehlen "Zigeuner" eigentlich doch, übernehmen grundsätzlich die typischen Berufe von ihren Eltern und ziehen herum.

Das Jugendbuch In meiner Sprache gibt's kein Wort für morgen von Elisabeth Petersen spielt ebenfalls in einer Sintisiedlung, in der die Menschen isoliert wie auf einer Insel leben. Alle Kontakte mit der Außenwelt sind konfliktbeladen. Die Hauptfigur, ein Junge, erfährt nur über sein musikalisches Talent Anerkennung außerhalb seiner Gruppe, seine Schulausbildung spielt keine Rolle, da der Beruf des Hausierers für ihn wie für alle dargestellten Sinti vorprogrammiert scheint - auch bei diesem "Problembuch" hagelt es Stereotypen.

Generell können bei den sog. Problembüchern über Minderheiten, hinter denen oft die gute Absicht steht, etwas gegen Minderheitenphobie und Fremdenfeindlichkeit zu unternehmen, einige typische Handlungsmerkmale ausgemacht werden.

Gut gemeint ist nicht gut genug

Häufig wird einE AngehörigeR der Mehrheitsgesellschaft als FreundIn und HelferIn dargestellt und so die Gesellschaft insgesamt von der Mitverantwortung für Verfolgung oder Diskriminierung entlastet. Der/die VertreterIn der Minderheit erscheint hingegen als Opfer und ist damit einem Kollektivschicksal unterworfen. Individuelle Züge kommen dadurch nicht zur Geltung. Trotz des oft guten Willens fallen die AutorInnen meist in gesellschaftliche Vorurteile zurück, und sei es in Form einer "Philohaltung". Typisch ist auch, dass einE VertreterIn der Mehrheitsgesellschaft die Identifikationsfigur ist und sich stellvertretend für die LeserInnen aus ihrer starren und voreingenommenen Einstellung gegenüber den "Fremden" löst, wobei gleichzeitig deren gesellschaftliche Isolierung durchbrochen wird. Am Ende steht dabei meist die Entwicklung des überaus positiv gezeichneten Kindes aus der Mehrheitsgesellschaft im Vordergrund, der oder die den ausländischen MitschülerInnen oder Nachbarskindern hilft - das klassische Helfersyndrom.

Ausschnitt aus der Sendereihe Das Gift der frühen Jahre- Rassismus in der Kinder- und Jugendliteratur von Ulrike Huber, Mitfrau von La Radio, dem FrauenLesben-Radio beim freien Sender Radio Dreyeckland, Freiburg (redaktionell bearbeitet von Corrie Gerhard).

Literatur:

Awosusi, Anita (Hrsg): Zigeunerbilder in der Kinder- und Jugendliteratur. Schriftenreihe des Dokumentations- und Kulturzentrums deutscher Sinti und Roma. Heidelberg 2000.

Häfner, Ansgar: "Das Kinder- und Jugendbuch als Träger und Vermittler von Fremdbildern." In: Notizen, 1988, Nr.28, Bd.2.


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