ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und PraxisNr. 453 / 30.08.2001

Erinnerung an einen jüdischen
Kommunisten

Die Biografie Emil Carlebachs muss noch geschrieben werden

Am 9. April 2001 starb im Alter von fast siebenundachtzig Jahren Emil Carlebach, einer der wichtigsten kommunistischen und jüdischen Widerstandskämpfer in Deutschland, die das Naziregime überlebt haben.

Am 10. Juli 1914 wurde Emil Carlebach in einer jüdischen Kaufmannsfamilie - zur weiteren Familie gehörten bedeutende Rabbiner - in Frankfurt am Main geboren. Der Prozess gegen die anarchistischen Arbeiter Sacco und Vanzetti in den USA und der spätere Justizmord an ihnen waren die einschneidenden Erlebnisse, die ihn über viele Etappen in die Gewerkschaftsbewegung und in die kommunistische Partei führten. 1933 zum ersten Mal verhaftet, emigrierte er kurzzeitig, setzte aber bald in Deutschland die Widerstandsarbeit fort. 1934 wurde er erneut verhaftet und verurteilt, saß bis 1937 in Gefängnissen, danach im KZ Dachau und ab 1938 im KZ Buchenwald. Dort wurde er jüdischer Blockältester und beteiligte sich an der Selbstbefreiung des Lagers wenige Tage vor der Ankunft der US-Armee im April 1945. Von August 1945 bis 1947 war er einer der Lizenznehmer und Chefredakteure der Frankfurter Rundschau, seit 1946 KPD-Landtagsabgeordneter in Hessen und Mitarbeiter von KPD-Zeitungen. Nach dem KPD-Verbot von 1956 zog er in die DDR und arbeitete für den Sender der KPD. Seit 1968 lebte er wieder in der BRD, engagierte sich in der DKP, vor allem im Bezirksvorstand Hessen, und in der von ihm mitgegründeten Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN). Er wurde Chefredakteur der antifaschistischen Wochenzeitung Die Tat, daneben wer er in der deutschen journalisten-union (dju), der IG Druck und Papier und der IG Medien aktiv. Die Stadt Frankfurt verlieh ihm die Johanna-Kirchner-Medaille.

Verleumdet und angefeindet

Emil Carlebach steht wie kaum ein anderer für den kommunistischen Widerstand in Deutschland, insbesondere für überlebensnotwendigen Widerstand in den Konzentrationslagern. Er steht für eine antifaschistische Bewegung, die auch nach der verheerenden Niederlage und der Zerschlagung der Arbeiterbewegung durch den Faschismus noch einen wirksamen, das Leben Tausender Menschen rettenden Widerstand leistete. Er stand aber auch für die erneute Niederlage dieser Bewegung nach 1945, die zunächst scheinbar wichtige Positionen in Parlamenten und Redaktionen einnehmen konnte.

Die biografischen Angaben geben nur eine schwache Ahnung von den Konflikten und Tragödien, die das Leben von Emil Carlebach geprägt haben. Die verleumderischen Angriffe auf ihn und andere "Rote Kapos von Buchenwald" (so das tendenziöse Buch von Lutz Niethammer über die Häftlings-Selbstorganisation in Buchenwald) müssen ihn tief verletzt haben. Sie haben wohl auch seine Bereitschaft minimiert, sich auch über problematische Aspekte in der Arbeit der Funktionshäftlinge zu äußern. Einen Nachruf im Sinne einer umfassenden Würdigung zu schreiben, fällt schwer. Es sollen daher hier vor allem einige Fragen aufgeworfen werden, deren Beantwortung es vielleicht in absehbarer Zeit möglich macht, diese umfassende Würdigung vorzunehmen.

Nehmen wir seine Berufung zu einem der Lizenzträger und Chefredakteure der Frankfurter Rundschau durch die US-Besatzungsmacht. Beruhte sie einfach auf einer Verwechslung? "Die Amerikaner haben mich verwechselt mit meinem Großvetter Esriel Carlebach, der war Chefredakteur einer großen zionistischen Zeitung in Israel", heißt es in einem Interviewband des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt von 1976. Das erscheint durchaus denkbar. Oder war es, wie in "Zensur ohne Schere" behauptet, seine unzweifelhafte antifaschistische Haltung, die damals selbst einen Kommunisten für die Amerikaner brauchbar erscheinen ließ?

Warum hatte Carlebach (so weit bekannt) nie Spitzenfunktionen in KPD und DKP? War er zu eigensinnig, etwa in der illusionslosen Einschätzung der SPD, die er mit großer Schärfe vertrat? Wollte er dem Stumpfsinn der Parteizentrale entgehen, zumal der dauerhafte Umzug nach Düsseldorf ihn aus der Heimatstadt Frankfurt, der er sich sehr verbunden fühlte, weggeführt hätte? Was bedeutete für Carlebach der Antisemitismus, der Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre in allen "Volksdemokratien" und 1968 zumindest in Polen die stalinistische Politik braun einfärbte und auch an der deutschen kommunistischen Bewegung nicht spurlos vorüberging? Carlebach blieb Stalinist in dem Sinne, dass er selbst nach dem Ende der UdSSR die Vorstellung suggerierte, der Stalinsche Terror sei quasi ohne Stalins Kenntnis zu Stande gekommen. War das ein Zeichen von Altersstarrsinn oder die fehlende Bereitschaft, das System Stalins, das Millionen Juden und auch Emil Carlebach rettete, gleichwohl als verbrecherisch und antisemitisch zu benennen?

Stalinist und Antifaschist

Schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit verstrickte Carlebach sich in eine heillose Polemik mit Margarete Buber-Neumann, die als Frau des KPD-Führers Heinz Neumann (der in der UdSSR liquidiert wurde) zwar am Leben blieb, aber im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes an die Gestapo ausgeliefert wurde und das KZ Ravensbrück mehr zufällig überlebte. Da wurde nach dem Prinzip "Weil nicht sein kann, was nicht sein darf" geleugnet oder gar gerechtfertigt. Alles, was als "trotzkistisch" oder irgendwie ultralinks galt, wurde als Feind in einem Kampf auf Leben und Tod angesehen. Das ist aus den Verhältnissen erklärbar und damit dem Verständnis zugänglich. Zu einer (selbst)kritischen Betrachtung fehlte Carlebach wohl schon deshalb jede Motivation, weil seine Feinde bis zuletzt auch vor den übelsten Verleumdungen nicht zurückschreckten.

Was bedeutet es für die Entwicklung des "privaten" Lebens, wenn ein Mensch zwischen seinem 20. und 31. Lebensjahr eingesperrt ist, davon acht Jahren in Konzentrationslagern? Wie konnte er es verkraften, dass die Freundin Ruth Cronstedt in der ersten Zeit des Widerstands Selbstmord beging, von ihrer Mutter zu Hause eingesperrt, die ihr jeden Umgang mit dem Widerstand verboten hatte und später verbreitete, ihre Tochter hätte die Scham über die Vorstrafe nicht ertragen? Von Carlebachs privatem Leben ist wenig bekannt; Ursel Siewers, die er etwa 1951 geheiratet hat, starb bereits 1971, die gemeinsame Tochter Andrea kam Ende der sechziger Jahre mit dem Vater aus der DDR nach Frankfurt. Gleichwohl hat Carlebach auch sehr Persönliches preisgegeben, etwa das Verhältnis zum Vater, dem er kurz nach der Pogromnacht im KZ Buchenwald begegnete und der aus antikommunistischer Verbohrtheit jede Hilfe ablehnte und kurz nach der Entlassung aus dem KZ starb - "tot aufgefunden", wie es amtlich hieß. Genaueres konnte der Sohn nie erfahren. Die Mutter starb in einem Vernichtungslager, die Schwester wurde in letzter Minute von der Mutter mit einem Kindertransport ins Ausland geschickt.

Wie sachlich und klar in seinem Buch "Am Anfang stand ein Doppelmord" von Hass gegen einen Lehrer ("Hätte ich eine Pistole gehabt, ich hätte ihn erschossen"), Angst, Angstüberwindung und Scham erzählt wird, ist tief beeindruckend und spricht dem Propaganda-Bild des eiskalten Kommunisten, den nichts erschüttern kann, Hohn. In den letzten Jahren hat Carlebach im jüdischen Altersheim in Frankfurt gelebt. Jude zu sein ist für ihn wohl ursprünglich nur wegen des Antisemitismus von Bedeutung gewesen. Vielleicht hatte die Entscheidung, in den letzten Jahren im jüdischen Altersheim zu leben, ganz praktische Gründe. Oder wäre das Johanna-Kirchner-Altersheim in Frankfurt nicht in Frage gekommen, weil es von Sozialdemokraten geleitet wurde? Spielten in den letzten Jahren die jüdischen Aspekte seiner Identität wieder eine Rolle? Sind dies überhaupt relevante Fragen zur Biografie dieses jüdischen Kommunisten? Und weiter: Was machte die persönlich-politische Wirkung dieses Menschen aus, zu dessen Beisetzung Hunderte aus Deutschland, Frankreich, aus vielen politischen und weltanschaulichen Gruppierungen, aus fast allen Altersgruppen kamen? Mir hat zu Beginn der siebziger Jahre die illusionslose Schärfe seiner Argumente etwa über die Kumpanei des Staates Bundesrepublik mit dem Faschismus imponiert, Carlebachs intellektuelle Überlegenheit und der Angriffsgeist, den er in der Verteidigung von Menschenrechten zeigte. Ohne den abseitigen Aspekten seiner politischen Ansichten zu folgen, verblüffte mich seine Weitsicht, als er bei einer Veranstaltung nach dem Wendejahr 1989 seinem Freund Bernt Engelmann auf dessen Erwartungen eines friedlichen deutschen Staates entgegnete: "Wenn du dich da mal nicht irrst..."

Es gibt eine Reihe von autobiografischen Notizen und Interview-Äußerungen, die aber nur einen Eindruck vermitteln von dem, was sich hinter der "äußeren" Biografie verbirgt. Carlebachs als Autobiografien geltende Bücher "Am Anfang stand ein Doppelmord" (nämlich der an Sacco und Vanzetti), das die Zeit bis 1937, und "Tote auf Urlaub", das die Zeit von 1937 bis 1945 behandelt, sowie das Buch "Zensur ohne Schere - Die Gründerjahre der Frankfurter Rundschau", enthalten neben den autobiografischen Aspekten im engeren Sinne auch Argumentationen und Polemiken. Diese Bücher liefern quasi nur Bausteine für eine Biografie. Eine solche Biografie zu schreiben, wäre eine wichtige Aufgabe, denn in kaum einem anderen Leben bündeln sich so viele Widersprüche eines linken Engagements: Bürgerliche, jüdische Herkunft, ein deutschnational ausgerichtetes Elternhaus, immer stärkere Aktivität in einer proletarischen, atheistischen politischen Bewegung. Diese Arbeit hat Emil Carlbach unter schwierigsten, jahrelang lebensbedrohenden Umständen fortgesetzt.

Wer spendet 10.000 Euro?

Die Aufgabe, seine Biografie zu erstellen, sollte jetzt angegangen werden. Noch leben einige derjenigen, die Carlebach im KZ Buchenwald erlebt haben, die ihn auch später in seinen Funktionen in der Vereinigung der ehemaligen Buchenwald-Häftlinge und in der VVN erlebt haben. Die Erstellung einer solchen Biografie sollte ein kollektiver Prozess sein, schon deshalb weil viele Menschen, die mit ihm in verschiedenen Zusammenhängen gearbeitet haben, befragt werden sollten. Die Ergebnisse von Recherchen und Befragungen sollten schon vor der Veröffentlichung diskutiert werden, schon weil so viele und widersprüchliche Aspekte zu berücksichtigen sind.

Aber: Wer schreibt eine solche Biografie, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, die ohne Apologie und genauso ohne das billige Messen an unrealistischen Maßstäben auskommt und die wenigstens versucht, die so oft tragischen Aspekte dieses Lebens darzustellen? Wer trägt die Mittel zu einem Fond bei, der mit 10.000 DM oder besser noch 10.000 Euro ein oder zwei journalistisch und historisch befähigten Menschen ermöglicht, Recherchen zu unternehmen, Interviews zu führen und einen intelligenten, differenzierten, gut lesbaren, ja spannenden Text zu erstellen? Welcher Verlag publiziert das Buch? Die Biografie, die zu schreiben ist, wird ein vielschichtiges Bild zeichnen und sich einfachen Bewertungen entziehen müssen.

So viel steht fest: Trotz einiger problematischer Aspekte von Carlebachs politischen Aktivitäten und Ansichten wird dieses Leben jedem, der sich unvoreingenommen damit beschäftigt, großen Respekt abverlangen. Eine solche Biografie könnte durchaus ein Mosaikstein einer europäischen, antifaschistischen Kultur sein.

Dietrich Marquardt

Biografische Angaben finden sich auf der Homepage der Bundes-VVN, in dem Band "Die Carlebachs - Eine Rabbinerfamilie in Deutschland", Verlag Dölling und Galitz, Hamburg 1995 und in den genannten Büchern von Emil Carlebach, die allerdings nur antiquarisch zu kaufen sind. Das KAOS Film- und Video-Team veröffentlichte 1998 das 30-Minuten Video: "Emil Carlebach - Kommunist". Lieferbar von Carlebachs Büchern sind "Hitler war kein Betriebsunfall" und "Buchenwald - ein Konzentrationslager."


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