ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und PraxisNr. 456 / 22.11.2001

Geschlecht wird gemacht

Film über Geschlechter- und Körperpolitik und den Zwang zur Normalität

"Man spürt sich, es gibt keine Gedanken mehr, es gibt keine Grenze, die Grenze bist nur du. (...) Es gibt hier kein Geschlecht" so beschreibt Michel Reiter seinen Lieblingsort. Er sitzt auf der Spitze eines Berges, die Kamera folgt seinem Blick über die Gipfel in das Blau des Himmels.

Michel Reiter ist einer von zwei ProtagonistInnen, die in dem Dokumentarfilm "Das verordnete Geschlecht" der Filmemacher Oliver Tolmein und Bertram Rotermund porträtiert werden. In dem Film geht es um die Geschichte von Zwittern, um Menschen, die bei der Geburt nicht "eindeutig" einem Geschlecht zuzuordnen sind. In einer Gesellschaft, die nur zwei Geschlechter kennt, ist die Antwort auf die Frage: "Ist es ein Junge oder ein Mädchen" nicht nur für die Farbe der Babykleidung unerlässlich; sie entscheidet auch maßgeblich die zukünftige (Geschlechts-)Identität der Neugeborenen. Die Antwort "weder noch" ist für die westlichen Industriegesellschaften ein Tabu. Sowohl Michel Reiter als auch Elisabeth Müller haben bei ihrer Geburt gegen das eherne Gesetz "Es gibt nur Mann oder Frau" verstoßen und wurden somit zu einem medizinischen "Sonderfall".

Elisabeth Müller, die genetisch, aber nicht hormonell ein "Mann" ist, und Michel Reiter, dem durch chirurgische Eingriffe das Geschlecht "Mädchen" verpasst wurde, erzählen in dem Film eindrücklich, welchen Preis sie für das Dogma von den zwei Geschlechtern zahlen mussten und müssen.

Bei einem von 2.000 Kindern wird kurz nach der Geburt die Diagnose "Intersexualität" (AGS) gestellt. Da, was es offiziell nicht gibt, auch nicht sein darf, werden intersexuelle Kinder meistens im Alter von zwei bis vier Jahren auf ein äußeres Geschlecht "Mann" oder "Frau" hin operiert. Die Frage, was "es" denn nun ist, beantwortet allein die Medizin. Durch regelmäßige Kontrolluntersuchungen, die Verabreichung von Hormonen und durch "korrigierende" Nachoperationen wird sichergestellt, dass das verpasste Geschlecht auch dauerhaft passt. So werden aus den von der Norm abweichenden Kindern chronisch "kranke" PatientInnen.

Der Fokus der Dokumentation "Das verordnete Geschlecht" liegt auf den individuellen Erzählungen Reiters und Müllers, gleichzeitig werden ihren Geschichten Statements von Ärzten und Eltern gegenübergestellt, die nach wie vor überzeugt sind, dass eine frühzeitige Operation intersexueller Kinder notwendig sei, damit diese nicht als AußenseiterIn aufwachsen.

Die Stärke des Filmes liegt darin, dass er klar Partei ergreift für die Anliegen Intersexueller, ohne dabei jedoch bevormundend zu sein. Es gelingt den Filmemachern, Reiter und Müller als Subjekte zu porträtieren, die um die Anerkennung ihrer Identität als Zwitter kämpfen, und nicht als Opfer und Objekte medizinischer und gesellschaftlicher Zwänge. Der Film zeigt, wie schwierig die Suche nach Identität in einer Gesellschaft ist, in der Vorstellungen von Normalität notfalls auch mit Zwang und Gewalt durchgesetzt werden. Medizin und Justiz übernehmen dabei die Rolle, die Einhaltung der Norm zu gewährleisten, indem AbweichlerInnen pathologisiert bzw. kriminalisiert werden. Mediziner, wie der in dem Film zu Wort kommende Professor Waldschmidt von der Kinderchirurgie Berlin, charakterisieren Intersexualität als Krankheit. Diese dubiose Krankheit manifestiert sich nicht durch Schmerzen, sondern durch Normabweichung. Für Waldschmidt sind "Mädchen, wo vorne der Penis rauskommt", "Kinder, die keinen graden Strahl machen", "die innerlich ein Männchen und äußerlich ein Weibchen sind", zunächst und in erster Linie ein medizinisches Problem. Ein Problem, das jedoch chirurgisch gelöst werden kann.

Dass durch eine Operation das Problem eben nicht gelöst wird, zeigt die Geschichte von Reiter und Müller. Beide hatten, trotz ihres äußerlich eindeutigen Geschlechts, schon als Kind das Gefühl, irgendwie "verkehrt" zu sein. Nachdem sie jahrelang unter ärztlicher Kontrolle standen, haben sich beide aus den Fängen der Schulmedizin befreit. Mittlerweile leben Reiter und Müller mit und in ihrem mehrgeschlechtlichen Körper. Dies ist um so schwieriger, als viele der geschlechtsnormierenden Operationen, die im Kleinkindalter vorgenommen wurden, nicht rückgängig zu machen sind. "Die Hoden haben mich zu dem Menschen gemacht, der ich bin", sagt Elisabeth Müller. "Diese Klasse hätte ich gerne behalten, die gehört zu mir".

Als Initiator der "Arbeitsgruppe gegen Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie" (www.aggpg.de) engagiert sich Michel Reiter für die Rechte von Intersexuellen. Ihm geht es darum, die medizinische Deutungsmacht über das, was Geschlecht zu sein hat, zu brechen. Aus diesem Grund hat Reiter einen Antrag an das Amtsgericht München gestellt, dass in seinem Pass als Geschlechtsbezeichnung "zwittrig" stehen soll. Durch die Möglichkeit, sich als Zwitter eintragen zu lassen, wäre zumindest der formalrechtliche Zwang einer Geschlechtszuweisung aufgehoben. Der Antrag wurde im Oktober 2001 abgelehnt. Nach geltendem Recht könne das Geschlecht nur als männlich oder weiblich eingetragen werden, so die Urteilsbegründung.

"Für mich ist Sexismus die Herstellung von zwei Geschlechtern", sagt Reiter. Der Kampf gegen die gewaltförmige Konstruktion von zwei Geschlechtern muss auf vielen Ebenen und nicht nur von Betroffenen geführt werden. Wie mächtig und allseits präsent der Zwang ist, Menschen in Mann und Frau zu kategorisieren, wird besonders dann deutlich, wenn sich Menschen eben nicht in dieses Muster einordnen lassen. Die medizinische und juristische Fest-Stellung: "Es ist ein Mann - bzw. eine Frau" wird erst durch tägliche Bestätigungen und Selbstvergewisserung zur gesellschaftlichen Realität. Der Film "Das verordnete Geschlecht" zeigt, so der Filmemacher Oliver Tolmein, "wie wichtig es ist, dass in einer Gesellschaft nicht Normalität die Leitlinie ist, sondern Unterschiedlichkeit anerkannt und Gleichbehandlung sichergestellt wird."

Das Verordnete Geschlecht. Ein Film von Oliver Tolmein und Bertram Rotermund, mit Michel Reiter und Elisabeth Müller, Musik: Schorsch Kamerun, Deutschland 2001, 62 min, 35 mm und VHS, Verleih: Rotermund@aol.com


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