ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis, Zeitung für linke Debatte und Praxis, Zeitung für linke Debatte und Praxis, Zeitung für linkeDebatte und Praxis / Nr. 451 / 07.06.2001

Afrikanisches Kaleidoskop

Die Ausstellung "The Short Century" im Berliner Martin-Gropius-Bau

In seinem Werk "Zeitalter der Extreme, Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts" hat Eric Hobsbawm Afrika einfach vergessen. Diese Lücke nimmt Okuwui Enwezor, der künstlerische Leiter der documenta XI, zum Anlass, eine Ausstellung zu konzipieren. Dabei übernimmt der gebürtige Nigerianer Hobsbawms Begriff "The Short Century", der für die rasche Abfolge von Revolutionen, Kriegen und technischen Entwicklungen im 20. Jahrhundert steht.

Mit der Ausstellung "The Short Century. Unabhängigkeits- und Befreiungsbewegungen in Afrika 1945 bis 1994" hat Enwezor sich nichts geringeres vorgenommen, als eine "zeitgenössische, kritische Biografie Afrikas" vorzulegen. Schlaglichtartig beleuchtet die Ausstellung Malerei, Fotografie, Literatur und Architektur im Afrika des 20. Jahrhunderts. Auch politische Plakate, Musik von Kwela bis Township Jive sowie zahlreiche Videoinstallationen sind zu sehen und zu hören.

Die lockere Klammer dieser Ausstellung sind die Eckdaten 1945 und 1994: Kwame Nkrumah, Jomo Kenyatta und Peter Abrahams veranstalteten im Oktober 1945 den Fünften pan-afrikanischen Kongress in Manchester. Er mündete in der einstimmigen Forderung nach einem unabhängigen Afrika. Die zweite Jahreszahl markiert mit der Wahl Nelson Mandelas zum Präsidenten Südafrikas das Ende der Apartheid.

Nach München ist die Ausstellung jetzt in jener Stadt zu sehen, in der unter der Regie von Otto von Bismarck, als Vorsitzender der Berliner Konferenz 1884, das Wettrennen um die Kolonisierung Afrikas in geordnete Bahnen gelenkt werden sollte. Portugal, Großbritannien, das Deutsche Reich, Frankreich und Belgien teilten sich den gesamten Kontinent auf. Nur Marokko, Äthiopien und Liberia wurden als unabhängige Einheiten anerkannt.

Wie gelang es Afrika, eine eigene Modernität zu verwirklichen? Welchen Einfluss hatte der Kampf gegen die Kolonialisierung auf Intellektuelle und Künstler in Afrika? Das afrikanische Kaleidoskop im Berliner Martin-Gropius-Bau zeigt, dass die afrikanische Moderne weder eine Ideologie mit universalem Anspruch ist, noch dass sie auf einer einfachen Übernahme einer europäischen Moderne gründet.

Die Ausstellungsmacher präsentieren keine geschlossene Erzählung und geben keine klaren Antworten. Wie ist der Prozess der Unabhängigkeit in den einzelnen Kolonien abgelaufen und wie ist er zu bewerten? Oder, wie eigneten sich afrikanische Künstler die europäische Kultur an und wo setzte eine afrikanische Neuinterpretation ein? Die Ausstellung gibt Hinweise, durchkreuzt das breite Feld der Dekolonisierung und mischt künstlerische Interpretationen mit historischen Dokumentationen. Keine chronologische Abfolge wird geboten, sondern ein Marktplatz der Vielstimmigkeit und Ambivalenz.

Bei der Betrachtung von Georges Adéagbos Werk "Afrikanischer Sozialismus" zeigt sich die Komplexität und scheinbare Unordnung der Ausstellung besonders deutlich: Ein kleiner Raum ist voll gestopft mit Erinnerungsstücken: Fotos von Rock'n Roll Partys und Kopien afrikanischer Kunst sind an die Wand gepinnt. Neben einer Postkarte von Patrice Lumumba hängt das Plattencover "Da kommt Freude auf" von Gottlieb Wendehals. Eine Flasche Jägermeister, ein Atlas der deutschen Kolonien und Carl Einsteins Buch "Negerplastik" liegt auf dem Boden zwischen ausgelatschten Cowboystiefeln und "Heia Safari" von General Paul von Lettow-Vorbeck.

Ein solch hybrides Sammelsurium wäre für die Verfechter des Pan-Afrikanismus oder der Negritude sicher undenkbar gewesen. Sie beriefen sich in den Sechziger und Siebziger Jahren auf eine authentische afrikanische Kunst. Afrikanische Intellektuelle diskutierten, ob ein Gedicht afrikanisch sein kann, wenn sich der Autor, so wie das der Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka getan hat, der Sprache der Kolonisatoren bedient. Jener kritisierte übrigens den Essentialismus der Negritude und neckte: "Ein Tiger proklamiert nicht seine Tigritude."

Allgegenwärtig sind die Vertreter dieser Richtung in den Räumen dennoch, schließlich waren sie Pioniere und treibende Kraft bei der Unabhängigkeitsbewegung: Léopold Sédar Senghor, Dichter und Senegals erster Präsident, der Schriftsteller Aimé Césaire oder Kwame Nkrumah, Ghanas erster Premierminister.

Enwezor präsentiert noch weitere Poeten und Politiker: Kenneth Kaunda, Chinua Achebe, Fela Kuti und zahlreiche andere Männer. Die afrikanische Moderne wäre sicher keine Moderne, würde sie Frauen als historische und künstlerische Subjekte wahrnehmen: Kein Buch der südafrikanischen Autorin Miriam Tlali weit und breit. Kein Zitat der Feministin Nawal El Saadawis neben den vielen Kurztexten von Franz Fanon, Julius Nyerere oder Ahmad Sekou Toure, die sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung ziehen. Lediglich Isaac Julien und Mark Nash thematisieren in ihrem Film über Franz Fanons "Black Skin, White Mask" den ambivalenten Befreiungsprozess algerischer Frauen.

"Wie tragen wir der Erfahrung des Anderen Rechnung?", fragt sich Enwezor. Zumindest ist ihm mit der Ausstellung gelungen, das zweigeteilte Denken vom absoluten Selbst und dem Objekt, dem abgeleiteten Anderen, zu verlassen. Afrikanische Kunst ist hier von dem Etikett der Township-Kunst und Souvenir-Schnitzerei befreit: Expressive Ölmalerei des Südafrikaners Ernest Mancoba, Kupferstiche von Twins Seven-Seven, Seydou Keitas Porträtfotografie oder Kunstwerke aus afrikanischen Stoffen belegen die Vielfalt.

Die Ausstellung hat in den Ruinen des Kolonialismus gewühlt und eine neues, anders sortiertes Archiv eröffnet. Es ist voll von Indizien, die helfen, sich ein Bild davon zu machen, welchen Einfluss die Kolonialisierung und der Widerstand dagegen, auf die Produktion neuer Modelle kultureller Expression hatte. "The Short Century" repräsentiert ein Afrika der Imagination. Gleichzeitig nähert sich die Ausstellung aber auch dem Afrika im Kontext seiner gelebten Erfahrungen und Wirklichkeiten. Und sie verweist auf das unvollendete Projekt der Dekolonisation Afrikas.

Anke Schwarzer

Okwui Enwezor: The Short Century. Independence and Liberation Movements in Africa 1945-1994. München, London, New York, Prestel 2001, 496 Seiten, 128 DM

Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, Berlin bis 29. Juli 2001 (Katalog 78 DM)


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