ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis, Zeitung für linke Debatte und Praxis, Zeitung für linke Debatte und Praxis, Zeitung für linkeDebatte und Praxis / Nr. 451 / 07.06.2001

"Du willst es nicht wahrhaben"

Ein neuer Film dokumentiert das "Verschwindenlassen" in Kolumbien

300 Oppositionelle, Studierende, GewerkschafterInnen, AnwältInnen, Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen oder militanten Gruppen werden in Kolumbien jährlich verschleppt und ermordet. Menschenrechtsorganisationen schätzen die Gesamtzahl der Verschwundenen auf etwa 4.200. Meist werden die Opfer auf offener Straße mit Waffengewalt in ein wartendes Auto gezerrt; ihnen bleibt manchmal gerade noch Zeit, Umstehenden ihren Namen oder eine Telefonnummer zuzurufen. Ihre Leichen werden selten gefunden oder aber die Opfer sind gefoltert, verbrannt und bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, so dass sie nur schwer identifiziert werden können.

Ein neuer Dokumentarfilm versucht das Thema zu enttabuisieren und den politischen Kampf der Verschwundenen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Der 53-minütige Film "Den Verschwundenen eine Stimme!" von Erick Arellana Bautista und Pedro Campoy beschreibt die unermüdliche Arbeit der Angehörigen der Verschwundenen, wie sie versuchen, die Fälle öffentlich zu machen und gegen die Straflosigkeit zu kämpfen. Der vergangenes Jahr fertig gestellte Film liegt jetzt auch in Deutschland vor.

Das gewaltsame Verschwindenlassen ist spätestens seit der von den USA entwickelten Doktrin der "Nationalen Sicherheit" in Lateinamerika Teil staatlicher und militärischer counter insurgency. In Guatemala wurde das Verschwindenlassen erstmals 1963 registriert, in Brasilien 1964. In Chile verschleppten Militärs nach dem Sturz Allendes Hunderte von RegimegegnerInnen, in Argentinien verschwanden nach dem Militärputsch 1976 mindestens 25.000 Oppositionelle. 1999 verzeichnete die Arbeitsgruppe Erzwungenes oder Unfreiwilliges Verschwinden (AGEUV) der UNO gewaltsames Verschwindenlassen durch Militär, Polizei und andere Sicherheitskräfte in mindestens 63 Ländern, darunter neben vielen lateinamerikanischen Staaten auch die Türkei, Ruanda, Indonesien, Irak oder Sri Lanka. Die Guerillera Omaira Montoya war 1977 die erste, deren Verschwinden in Kolumbien dokumentiert wurde

"Du brauchst Gewissheit"

1978 wurde Turbay Ayala zum neuen Präsidenten Kolumbiens gewählt. Ayala schuf ein immer repressiveres politisches Klima. Er erließ das sogenannte "Sicherheitsstatut", das den Militärs neben anderen Kompetenzen erlaubte, paramilitärische Einheiten aufzubauen. Zusammen mit Geheimdiensten und Polizei systematisierten sie das Verschwindenlassen als Teil der Aufstandsbekämpfung. Der ab 1982 amtierende Präsident Betancur ließ der Opposition wieder größeren Spielraum und bemühte sich scheinbar um die Legalisierung verschiedener Guerillas. Seine Politik diente allerdings dazu, dem Widerstand Namen und Gesicht zu geben und die Opposition dadurch zur Zielscheibe von Attentaten und Verschwindenlassen werden zu lassen: Tausende wurden ermordet oder verschleppt, allein die linke Union Patriotica verlor über 4.000 ihrer Mitglieder.

Die betroffenen Familien können zwar den Tod ihrer Angehörigen vermuten, die Möglichkeit, die Verschwundenen zu bestatten und damit ihren Tod zu verarbeiten, bekommen sie aber selten: "Du brauchst Gewissheit, du weißt zwar, dass er tot ist, aber du willst es nicht wahrhaben. Dein Gefühl lässt das nicht zu", erzählt Yolanda Rodriguez, Ex-Guerillera der M-19. So suchen die Angehörigen oft jahrelang zunächst in den Krankenhäusern, Leichenhallen, Müllhalden, in den Straßen oder der Umgegend; sie rufen FreundInnen und Bekannte an und drucken Plakate. Oft wagen sie nicht, die Fälle öffentlich zu machen oder anzuzeigen in der Hoffnung, dass die Angehörigen noch am Leben sind und freigelassen werden. Viele werden unter diesen Umständen traumatisiert und krank. NachbarInnen, Bekannte und sogar Verwandte ziehen sich zurück aus Angst, selbst in die Nähe verschwundener politischer AktivistInnen gerechnet zu werden. Aber auch das politische Umfeld wird verunsichert: Niemand weiß, was die Verschleppten unter Folter über die Strukturen preisgaben; wer als nächstes zum Verschwinden gebracht wird. "Das Verschwindenlassen ist vernichtend: Es schwächt das soziale Netz, denn du triffst damit auch die Freunde und Angehörigen. Das gewaltsame Verschwindenlassen hat eine wichtige Funktion in einer Politik radikaler Aufstandsbekämpfung", kommentiert die Anwältin der kolumbianischen Juristenkommission, Tatiana Rincón.

Auch Josefa Joyas Sohn Edilbrando verschwand. 1982 wurde er zusammen mit 13 anderen Studierenden verschleppt. In dieser Zeit begannen sich die Angehörigen zu organisieren, sie gingen auf die Straße, um die Freilassung der in Haft vermuteten Verschleppten zu fordern. Josefa Joya gehörte zu den Gründerinnen der kolumbianischen Angehörigenorganisation Vereinigung der Angehörigen der verschwundenen Verhafteten ASFADDES. Sie unterhält ein nationales Büro in Bogotá und mehrere Regionalbüros. Die Organisation wurde zum letzten Strohhalm für viele, die bis dahin keine politischen Einflussmöglichkeiten hatten; alle kamen durch persönliche Betroffenheit zur politischen Arbeit bei ASFADDES: "Ich wusste nichts vom politischen Leben, nichts über den Staat und nichts von politischen Dingen. Die Suche nach unseren Angehörigen war für uns eine Schule", erzählt die spätere Geschäftsführerin Josefa Joya. ASFADDES versucht seitdem, die Fälle öffentlich zu machen und die Angehörigen zu unterstützen.

In Leichenhallen, Krankenhäusern und Müllhalden

Die Arbeit von ASFADDES gliedert sich in vier Tätigkeitsfelder: Dokumentation und Unterstützung (Verfolgen jedes Falles angefangen bei der Suche, der Beweissammlung und ZeugInnen bis hin zur Erstattung der Anzeigen); das Verschwindenlassen anzeigen (gegenüber staatlichen Behörden sowie Nichtregierungsorganisationen, UNO, OEA. Urgent Actions, Mobilisierung durch öffentliche Proteste, Demonstrationen, friedliche Aktionen); Bildung und Erziehung (Beratung, Ausbildung der Angehörigen von Verschwundenen, moralische und psychische Unterstützung); Finanzielle Hilfe (Unterstützung der Angehörigen in Krisensituationen. Solange beispielsweise keine Leiche gefunden wird, ist es mühsam, den Status als Witwe oder Waise anerkennen zu lassen).

"Wir haben die Anzeige bei den Henkern gemacht", erzählt Josefa Joya über den Versuch, das Verschwindenlassen ihres Sohnes Edilbrando durch die Polizei aufklären zu lassen. Tatsächlich gibt es in sehr vielen Fällen Indizien oder Aussagen von ZeugInnen, die belegen, dass die Polizei, das Militär oder deren Geheimdienste F2, B2, DIJIN oder SIJIN verwickelt sind. Vor allem auf dem Land sind die Akteure paramilitärische Gruppen, in jüngster Zeit auch mehr und mehr Viehzüchter und Angehörige des Drogenhandels.

Die Aufklärungsquote ist gering, 99% aller Fälle bleiben straflos. Etwaige ZeugInnen haben Angst, selbst zum Opfer zu werden, und machen bei der Polizei keine Aussagen. Ohne ZeugInnen allerdings kann nicht einmal eine Anzeige wegen Entführung erstattet werden. Bloße Vermisstenanzeigen nimmt die Polizei nicht ernst und argwöhnt, die Verschleppten seien untergetaucht und hätten sich klandestinen Gruppen angeschlossen. Oder die Beamten werten das Verschwindenlassen als Indiz, dass die Betroffenen gegen den Staat gearbeitet haben. Andere Anzeigen werden manipuliert oder in Abwesenheit der Angehörigen kommentiert; die Behörden benutzen sie, um im Nachhinein belastendes Material über die Verschwundenen zu sammeln.

Die Angehörigen bekommen oft keine Kopie der Anzeige ausgehändigt. So erging es Maria Helena Ruíz de Ospina, ebenfalls Mitglied von ASFADDES, als sie das Verschwinden ihres Mannes bei der Bundespolizei DAS anzeigen wollte. Ihr wurde nach zwei Wochen mitgeteilt, dass der Geheimdienst der Polizei F2 ihn entführt hätte, sie aber nichts ausrichten könnten, weil es zwischen DAS und F2 "Diskrepanzen gibt". In einem anderen Fall fand sich ein Taxi, in welches das Opfer gezwungen wurde, auf dem Parkplatz der Bundespolizei DAS wieder. Es wurde bekannt, dass ein Agent des DAS zusammen mit 18 anderen Polizisten in den Fall verstrickt ist. Er war bis dahin Chef einer Anti-Entführungseinheit und als "ehrenhafter Ermittler" ausgezeichnet. Als Haftbefehle erlassen wurden, floh er. Ein anderer der Gruppe ist nun Chef einer paramilitärischen Einheit im Magdalena Medio.

Mehr Glück hatten die Angehörigen der 1987 verschwundenen Nydia Erika Bautista: Ein Oberst des Militärs, der selbst um sein Leben fürchtete, wandte sich an den Menschenrechtsbeauftragten Kolumbiens, um Schutz im Austausch gegen Informationen zu finden. Durch seine Aussagen wurde drei Jahre nach dem Verschwindenlassen die Leiche der Ex-Guerillera auf einem Friedhof gefunden. Sie war als Namenlose bestattet worden. Die Angehörigen erreichten gemeinsam mit dem Menschenrechtsbeauftragten Hernando Valencia Villa nach langwieriger Öffentlichkeitsarbeit, dass der Fall 1995 wieder aufgenommen und ein Jahr später ein verantwortlicher General vom Militär suspendiert wurde - ein bis dahin einmaliger Vorgang. Dem zum Trotz wurde der entlassene General im gleichen Jahr mit der höchsten militärischen Auszeichnung des Landes für "gute Führung" geehrt - ein "blutiger Scherz", so der damalige Menschenrechtsbeauftragte, er "spottet der Justiz und der staatlichen Autorität".

Seit 12 Jahren arbeitet ASFADDES daran, das Verschwindenlassen als strafrechtlich relevantes Delikt anerkennen zu lassen, damit die Polizei auch ohne Leiche oder ZeugInnen gezwungen ist, Ermittlungen aufzunehmen. Das Militär konnte entsprechende Gesetzentwürfe, die von den Kammern zuvor beschlossen wurden und denen lediglich die Unterschrift der jeweiligen Präsidenten fehlte, durch gezielte Lobbyarbeit immer wieder torpedieren. Im Sommer 2000 erließ die Regierung Pastrana endlich ein Gesetz, das das Verschwindenlassen als "Verbrechen gegen die Menschheit" anerkennt. Das Verschwindenlassen hat dennoch nicht aufgehört.

"Die Suche war für uns eine Schule"

Wegen der unermüdlichen Arbeit gegen die Straflosigkeit sind die Mitglieder von ASFADDES selbst massiver Repression ausgesetzt. 1997 wurde beispielsweise in Medellín eine Bombe mit der Sprengkraft von fünf Tonnen Dynamit gelegt, die das Büro von ASFADDES zerstörte. Am 11. Juli 2000 wurde in Barrancabermeja Elizabeth Cana Cano ermordet, die als Zeugin vor dem Internationalen Meinungstribunal fungierte. Am 28. September 2000 lancierte die paramilitärische Organisation Autodefensas Unidades de Colombia AUC Todesdrohungen, die sich vor allem gegen Mitglieder der Menschenrechtsorganisationen CREDHOS und ASFADDES richten. Beide stünden auf einer "Säuberungsliste", die Guerilleros betreffe, die ermordet würden, wenn sie sich nicht zurückzögen. Das "Kommuniqué" bezieht sich auf "über zwanzig" Mitglieder von CREDHOS und drei von ASFADDES. Am 10. Oktober 2000 erhielt eine Mitarbeiterin von ASFADDES in Barrancabermeja einen Anruf, in dem sie unter Gelächter mit dem Tode bedroht wurde. In dieser Zeit wurde das Büro immer wieder auffällig von Männern in Autos und auf Motorrädern beobachtet. Im Herbst 2000 entschloss sich ASFADDES, wegen der Repression sechs Regionalbüros zu schließen.

Im Fall des Verschwindenlassens der 14 Studierenden, das 1982 zur Gründung von ASFADDES führte, wurde letztes Jahr Anklage gegen 54 Angehörige des Militärs und der Polizei erhoben. Daraufhin bekam auch die damalige Mitbegründerin Josefa Joya wieder anonyme Anrufe, Autos mit getönten Scheiben fuhren um den Block, verfolgten die Familienmitglieder oder parkten vor dem Haus. "Das Leben ist nicht mehr auszuhalten, sie verfolgen uns und werden uns umbringen." Zusammen mit vielen GenossInnen teilt Josefa Joya nun das Schicksal des Exils. Sie musste mit ihrer Familie nach Kanada fliehen.

Matthias Döring

"Den Verschwundenen eine Stimme!" von Erick Arellana Bautista und Pedro Campoy, Kolumbien 2000. (53 min.)
Verleih: Iska, Lausitzerstr. 10, 10999 Berlin, arellana@yahoo.com.


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