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Respektiert meine Haare, ihr Weißen
Chico César - Rhythmus, soziales Engagement und Liebe
"Es ist ein Verbrechen gegen das Vaterland mit Zustimmung des Weltkapitals. Im Brasilien von heute haben wir eine egoistische Elite, gleichzeitig die Verarmung der Mittelklasse und die totale Verelendung des Proletariats." Der das vor knapp drei Jahren sagte, ist kein Politiker, sondern ein kleiner Mann aus Brasilien, der dort zu Recht als Superstar gehandelt wird. Chico César ist Musiker, verbindet heimatliche Melodien und Stilrichtungen mit Reggae und Singer/Songwriting und betont neben dem Rhythmus vor allem eins: Musik ist für ihn ohne soziales Engagement nicht denkbar.


Die sozialen Probleme beeinflussen auch meine Musik und verstärken meine Solidarität mit den Leuten, die von diesem Wirtschaftsmodell ausgeschlossen sind. Denn ich komme ja aus deren Mitte." Diese Mitte liegt in dem eher wüstenartigen und ärmlichen Bundesland Paraíba im Nordosten Brasiliens. Aufgewachsen ist er als der siebente Sohn eines ungelernten Landarbeiters und einer Wäscherin. Bereits mit acht Jahren arbeitete er in dem Plattenladen seines nur 14.000 Seelen zählenden Geburtsortes, hörte hier nicht nur die Klänge seiner Heimat, sondern lernte auch die westliche Musik, vor allem die der USA kennen. Im Alter von zehn gründete er seine erste Band und zog mit dieser durch die Provinz, spielte auf Familienfeiern und bei religiösen Anlässen.

Die politischen Verhältnisse in Brasilien waren durch die Militärdiktatur gekennzeichnet, Zensur und Verbote auch in der Musik standen auf der Tagesordnung. Sambaschulen unterlagen durchweg als mögliche Organisations- und Radikalisierungszentren strengster Beobachtung der Junta und waren jederzeit von Verboten bedroht. Für Chico César eine Zeit, die immer noch prägend ist: "Die Musik spielt ja seit damals eine enorme Rolle: Sie war Sprachrohr der Bürgerbewegungen, als die politischen Parteien nicht mehr existierten, das Parlament geschlossen und die Zeitungen zensiert waren." Als er 1985 nach Sao Paulo geht, arbeitet er als Journalist, verdient mit Kultur- und Politikartikeln sein Geld. Nur noch nebenbei macht er Musik. Zehn Jahre schlägt er sich auf diese Weise durch, bis er 1991 - nach einem dreimonatigen Aufenthalt im westdeutschen Tübingen - beschließt, sich voll der Musik zuzuwenden. Als 1995 sein Album "Aos Vivos" erscheint, avanciert Chico César in Brasilien zum Star. Der Song "A primera vista" wird zum Hit und als Titelsong einer TV-Soap im ganzen Land bekannt. Vor allem aber sein "Mama Africa" gerät zu einem Ohrwurm, der durch die Straßen und Gassen von Sao Paulo und Rio de Janeiro schallt und inzwischen auch in den einschlägigen Latino-Szenen Europas nicht mehr wegzudenken ist.

Seitdem ist César nicht nur in Brasilien ein Begriff. Auf zahlreichen Tourneen quer durch die Welt machte er sich bereits einen Namen. Dass er trotz Ruhm weder seine Herkunft noch den Kopf verloren hat, stellt er nicht zuletzt mit seinem im Jahr 2002 veröffentlichten aktuellen Album klar: "Respektiert meine Haare, ihr Weißen" heißt der Titel dieses Albums in der deutschen Übersetzung. Und damit spielt der "Kleine König" nicht nur auf seine imposante Haartracht an, die er - da nur 1,60 m klein - kräftig nach oben bürstet, um so an Größe zu gewinnen. Der Sohn afrikanischer, indigener und weißer Vorfahren fordert vor allem den Respekt vor dem Einzelnen, vor dessen Einzigartigkeit. "Es geht nicht nur um die viel zitierte Toleranz - es geht um Respekt," stellt er selbstbewusst fest.

Allein die an dem Album beteiligten MusikerInnen zeigen, welche Stellung César inzwischen in der Música popular Brasileira (MPB) einnimmt. Neben so renomierten Namen wie Carlinhos Brown oder Daniela Mercury findet sich auf dem aktuellen Album auch ein Duett ("Antinome") mit der Legende Chico Buarque, dessen Songs vielfach unter der Militärdiktatur verboten waren, nichtsdestotrotz aber überall in den Städten und Dörfer vom Volk gesungen werden. Auch internationale Anerkennung hat sich inzwischen eingestellt: Gemeinsam mit Ivan Lins und Victor Martins schrieb er den Song "Soberana Rosa", für dessen englische Fassung "She walks the Earth" Sting 2001 den Grammy in der Kategorie Best male Pop Song gewann.

Musikalisch liefert César ein überaus breites Repertoire, in dem er aus den scheinbar unendlichen Quellen der brasilianischen Volkmusik schöpft. Nicht zuletzt kommt er ja aus einer Gegend Brasiliens, die sich als Ursprung des Landes rühmt. Wenn es denn stimmt, dass Brasilien hinsichtlich der Musik kein Land, sondern eher ein Kontinent ist - wie es Gilberto Gil mal sagte, dann lässt sich in der Musik von Chico César davon jede Menge finden: Neben allerlei Varianten des Sambas ist das allem voran der stark Akkordeon geprägte Forró, einer für brasilianische Verhältnisse eher ruhigeren Gangart. Oder der Baiao, Coco, Carimbó, der immer mal wieder als Ursprung des HipHop bezeichnete Emobolo. Und wenn das nicht reicht, kommen auch schon mal indianische Pfeifen oder karibische Anleihen hinzu. Diese traditionellen Klänge verbindet César auf feine Weise mit westlichen Sounds, vor allem mit Reggaebeats und Funk, aber auch dem Singer/Songwriting US-amerikanischer Tradition. Diese Musik kommt nicht nur aus dem Herzen und dem Hirn, sondern - tanzbar wie sie ist - aus der Hüfte.

Charakteristisch sind auch die Texte, die auf typisch brasilianische Weise vor Wortwitz nur so strotzen. Dass der stark ausgeprägt ist, hängt vor allem damit zusammen, dass in vielen Regionen Brasiliens auch heute noch Geschichte als gesprochenes Wort weitergegeben wird und diese orale Tradition noch sehr lebendig ist. Außerdem durchziehen die Texte immer wieder Anspielungen auf die Alltagskultur, auf religiöse Anlässe, die sich ohne weiteres für Außenstehende so nicht erschließen (daher gibt es auf der Homepage von Chico César neben der englischen Übersetzung der Texte auch diverse Erläuterungen), in Brasilien aber auf Anhieb von jedem und jeder verstanden werden. Ein Mittel, dass auch während der Diktatur zur Umgehung der Zensur intensiv genutzt wurde.


Chico César: Respeitem Meus Cabelos, Brancos; www.exil.de, www.chicocesar.net


Quelle: ak - analyse & kritik