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Herr Nilsson - Einfacher Sein
Popmusik an der Grenze zur Literatur
Wie begnadet widersinnig und bizarr die Alltäglich sein kann, darüber weiß vermutlich kaum eine andere Band besser als Herr Nilsson zu singen. Die Vier aus dem Prenzlauer Berg haben gerade ihre nunmehr vierte Platte veröffentlicht: Einfacher sein heißt die. Ein Titel, der einerseits fast sachlich beschreibend ist und doch die selbstironische Qualität der Band unterstreicht.

Für die Texte von Herrn Nilsson zeichnet Sänger und Gitarrist Jan Böttcher verantwortlich. Großstadtsongs, die nur einer machen kann, der in einem Dorf großgeworden ist und sich wohl immer noch ein wenig wundert, wo er da eigentlich reingeraten ist. Da spielt der Falk (-Plan, auf Herr Nilsson ist ausgezogen) bei der Orientierung in allen Lebenslagen eine nicht unbedeutende Rolle. Nur mit ihm ist es gelungen, unser Dorf zu verlassen, an der Elbe gelegen: „Die Häuser sind hier allemal bequemer zu besetzten, als an jedem mir bekannten Ort.“ Wer hier seine Jugend vor allem damit zugebracht hat, auf die „Krötenwanderung“ zu warten, der muß sich die große weite Welt eben etwas anders zusammen reimen. Auch in der Liebe kommen dann merkwürdige Phantasien zustande: Die besteht vor allem aus Koalitionsgesprächen, die es von Anfang an gibt und die dauern ein Leben lang.

Aber okay, die haben eine Schwarze Seele, „die ist nicht bürgernah, die hat schon manche Freundin ausgezogen umgebracht.“ Und wer so drauf ist, setzt sich völlig zurecht das Ziel: „Ich will nie wieder gesellschaftsfähig sein.“ (aus dem Album Liebeslied und Fischigkeit, 1998)

Wie einfach die Band im Grunde ist, kann man sich auch denken, wenn man weiß, dass der Titelsong des neuen Albums bereits vor zwei Jahren auf Der erste eigene Wasserwerfer veröffentlich und auf Einfacher sein einfach weg gelassen wurde. Ebenso einfach ist die Musik vom Herr Nilsson zu beschreiben: Neben Schlagzeug und Gitarre steht ein Kontrabass und auf dem neuen Album kommt noch ein Fender Rhodes hinzu: Ein tragbares Piano, das nicht unbedingt wie ein Piano klingt. Da liegt jede Menge Swing und auch Jazz drunter, auch vom Folk ist das irgendwie nicht weit entfernt, dafür aber zu funky. So unaufdringlich das ganze zunächst wirkt: Die Melodien sind eingängig und hin und wieder auch ohrwurmträchtig. In jedem Fall klingt die Musik reichlich entspannt, obwohl die Songs – allemal wenn man sie live hört – ziemlich schwungvoll daher kommen. In begrenztem Umfang ist das sogar tanzbar. Die Band selbst nennt das Pop, Textpop um genau zu sein. Und richtig ist auch, dass man diesen Sound als Popmusik an der Grenze zur Literatur bezeichnen kann. In jedem Fall will die Band nichts mehr davon wissen, dass die Kritiker der Stadt sie vor Jahren in die Kleinkunstszene einordneten. Angesichts der manchmal geradezu kabarettistischen Einlagen und dem hin und wieder nach Chanson klingenden Tönen war das sicher nie böse gemeint. Doch wenn man das Wort in Gegenwart von Jan Böttcher ausspricht, bekommt der Mann fast Hautauschlag.

Musikalisch ist das neue Album gereifter, ausgefeilter, anspruchsvoller. Es ist ernster, als seine Vorgänger, erwachsener wenn man so will. Doch im Kern bleibt es wie schon auf den früheren Alben, dass die Musik vor allem der Untermauerung der Texte dient. Selbst wenn das eine oder andere Solo versucht, die Musik stärker nach vorn zu holen.

Mit dem Song Die Agentur haben Herr Nilsson auch den Fans eine Chance gegeben, sich an der Textproduktion zu beteiligen. Über deren Homepage konnte man Textzeilen einschicken, die dann von der Band zusammengesetzt wurden. Da kommt dann so was raus: „Der Lackierer, der einen Tag blau machte, der Zahnarzt, der von der Hand in den Mund lebte, die Prostituierte, die freier werden wollte, der Schaffner, der in den letzten Zügen lag...“ In den Vitamin-B-Werken nehmen sie die Welt der Vetternwirtschaft aufs Korn und man weiß nie genau, ob sie dabei über die Berliner Senats-Verhältnisse oder die Musikbranche singen. Auch der 11. September geht an Herrn Nilsson nicht spurlos vorbei: In der ihnen eigenen Gelassenheit setzten sie in dem Stück Das Ende der 70er Jahre die panischen Reaktionen im Bereich der Inneren Sicherheit nach den Anschlägen in Verbindung mit der Terroristen- und Sympathisantenhatz im Deutschen Herbst. Der Gast ist – wenn man so will – ein antirassistischer Song, zeigt aber deutlich, was man sich unter Pop an der Grenze zur Literatur vorstellen muß. Da werden alle möglichen Gäste begrüßt: Aus Schlachtensee, aus Hinterland, aus Gottesfurcht, aus Pristina, aus Schattenriss und im Refrain heißt es dann: „Unsere Hände, ungebunden, zeichnen Sprachen in den Raum. Keine Welt bleibt unerfunden, doch wir verfremden dabei kaum. Wir trinken Wein.“ Ein poetisches Plädoyer für Offenheit und Toleranz.

DSe, rock-links.de

Herr Nilsson, Einfacher sein, www.herr-nilsson.de