"Gleich nebenan war das 'Totenschiff'." Interview mit Schorsch Kamerun, Sänger der Goldenen Zitronen (Oktober 2000), Quelle: www.dietotenhosen.de | |
??? Wie wurden die Goldenen Zitronen Mitte der achtziger Jahre aus der Taufe gehoben? Schorsch Kamerun: Wir kamen aus der Provinz nach Hamburg,
waren um die 20 Jahre alt und hatten schon ab den späten Siebzigern alle
in anderen Bands gespielt (Ka Spriza, bsg3, Essen mit Spass, Kacke etc. ).
Es gab und gibt eine Wohnung, in der sogenannten "Buttstrasse" am
Hamburger Fischmarkt, in der wir alle lange wohnten. Gleich nebenan war
das "Totenschiff" (das ehemalige "Krawall 2000"), einer der ersten
Punkläden in der BRD überhaupt, welchen wir in seiner Endphase
mitgestalteten. Der Club war einer der zentralen Treffpunkte der
subkulturellen Szene in Norddeutschland. In der nahen "Hafenstrasse" haben
wir damals unsere ersten Konzerte gespielt. Die dortigen besetzten Häuser
und deren Bewohner wurden in dieser Zeit zum Symbol der linken
Gegenkultur. Wir fühlten uns immer als ein Teil davon und vertreten bis
zum heutigen Tag die Ideale des politischen und kulturellen Widerstandes
der, Ende der Achtziger, an diesem Ort am sichtbarsten wurde.
Schorsch Kamerun: In
den frühen Achtzigern stand Hamburg für stumpfen, aber auch sehr
energetischen Pogopunk a là "Razors", "Buttocks", "Coroners". Wir hatten
eher mit den Bands "Abwärts" sowie den Frauenbands "3/10tel Toleranz" und
"X-mal Deutschland" zu tun. Die einzelnen Szenen waren eher getrennt. es
gab die sehr emotionale Punkrockfraktion, aber auch eine etwas schickere
New Wave-Abteilung. Wir haben uns da stilistisch nie so festgelegt, nach
außen aber immer eher für die punkigere Variante plädiert.
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???
1986 wurdet Ihr einer größeren Öffentlichkeit bekannt - mit dem
sogenannten Skandalstück "Am Tag als Thomas Anders starb". Wie kam es zu
dem Stück und wie waren die Reaktionen?
Schorsch Kamerun: Das
Stück war nichts weiter als einfacher Spaß. Man machte sich lustig über
dümmliche Mainstreambarden. Die Form war ziemlich krass gewählt, was die
gesamte presse auf den Plan rief. Wir mussten Bildzeitungsreporter aus
unseren Konzerten entfernen und die Bravo schrieb, ob man wollte oder
nicht. Die damalige Frau von Thomas Anders, Nora, rief bei uns an - und
erlag dann in Hysterie. | |
???
Wo würdest Du die Zitronen dieser Zeit im Vergleich zu Hosen oder Ärzten
einordnen?
Schorsch Kamerun: Wir kamen aus der gleichen Szene, nur
aus unterschiedlichen Städten. die Ärzte wollten Popstars werden, die
Hosen waren immer die Hosen - und wir ahnten nach einigen Erfahrungen mit
dem größeren Musikgeschäft und seinen Mechanismen, das wir uns dagegen
verwehren müssen. Als die Ärzte sich auflösten, bekniete uns die Bravo
doch bitte deren Nachfolger zu werden mit Homestory und größeren Serien im
Heft. Wir haben das abgelehnt wie auch alle Plattenverträge der Industrie.
Für uns hatte das Lebensgefühl "Punk" auch immer eine betont
antikapitalistische Seite. Wir verurteilen nicht grundsätzlich den
Werdegang anderer, teilweise sehr erfolgreich gewordener Kollegen, aber
unsere persönliche Position ist eine eindeutige. | |
???
Was waren Eure spannendsten Touren?
Schorsch Kamerun:
Touren war anfangs das Aufregendste, was man sich vorstellen konnte. Wir
haben uns aufgeführt wie Wikingersaurier und dabei meiner Oma ihre Enkel
versoffen. Man kann sagen: Wir haben den Kids die Ohren abgebissen, um sie
nach Drogen oder so zu untersuchen. Wir waren mit den Hosen auf der
"Damenwahl"- Tour. In schöner Erinnerung ist noch der Helgoland-Ausflug.
Später haben wir dann diverse Male im Ausland gespielt. Die besten Reisen
waren eine Baskenland-Tour, eine in das gerade offene Tschechien und
Konzerte in Chicago und New York. | |
???
Es folgte bei den Zitronen der Übergang von Fun-Punk-Texten zu
Politthemen. Der Musikstil wechselte ebenso - und das mit einer Platte,
die "Punkrock" hieß. Im Jahr 1991 gab es plötzlich Stücke wie "80
Millionen Hooligans".
Schorsch Kamerun: Für
uns war das kein plötzlicher Wandel. Die Themen waren sowieso präsent, nur
wussten wir jetzt, wie wir das ausdrücken konnten, ohne dabei nur einfache
Slogans wie "Bullenschweine" zu singen. Das hatten andere vor uns getan.
Und wir mussten lange suchen, um den eigentlich gleichen Inhalt neu zu
verpacken, um ihn wieder interessant werden zu lassen. Außerdem war die
Situation in der BRD mit der Wiedervereinigung noch unerträglicher
geworden, was Rassismus und Ausländerhatzstimmung
anging. | |
???
1996 hast Du Dein erstes Soloalbum "Warum Ändern schlief" veröffentlicht,
das musikalisch als Lo-Fi-Pop bzw. "Punk-Hop" eingeordnet wurde. Welche
musikalischen Einflüsse hast Du verarbeitet?
Schorsch Kamerun: Ich
wollte Dinge tun, die ich bei der reinen Bandarbeit nicht machen konnte -
so auch den Umgang mit dem Computer als Musikinstrument versuchen.
Ansonsten war mir alles recht, was irgendwie nach Frickelgerassel klang
und trotzdem in mein minimales Songgefühl passte. Ein großer
Privatkindergarten voll Kunstambition, sehr gelungen.
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???
Auf der Platte befanden sich Titel wie "Hier entsteht ein super Markt",
"Menschen haben keine Ahnung", "Die Jugend ist die schönste Zeit des
Lebens" oder "Immer muss ich Flüssigkeiten zu mir nehmen". Was hast Du
inhaltlich für ein Konzept verfolgt?
Schorsch Kamerun: Mir
ging es um den klassischen Protestsong mit modernen Mitteln, aber
bitteschön auch noch abstrakt. Seitdem bin ich ein gewichtiger Künstler in
der Freejazz- und Staatsmuseumsszene. Ich werde gebucht für Empfänge im
Reichstag, wenn mal was Originelles hermuss. | |
???
1998 kam dann ein weiteres Zitronen-Album: "Dead School Hamburg". Wie
siehst Du die Musikszene Hamburgs heute?
Schorsch Kamerun:
Hamburg hat nach wie vor eine geschlossene Szene. Es gibt gewisse
Grundhaltungen bei denen sich alle einig sind. Die gemeinschaftliche
Struktur hat einen hohen Stellenwert und alle wissen um den Wert dessen.
Zwischen Bands wie "Blumfeld", "Tocotronic", "Die Sterne" oder auch
elektronischen Acts wie "Ego Express" entsteht nie eine verletzende
Konkurrenz; auch wenn Stil und Arbeitsweise sehr verschieden sind herrscht
immer auch Solidarität. | |
???
Dir gehört gemeinsam mit Rocko Schamoni der Pudel Club in Hamburg. Welches
Programm läuft dort?
Schorsch Kamerun: Wir
sind ein ultramoderner Zeitgeistladen, der jeden noch so winzigen Trend
aufspürt, um ihn dann in unserer Kaschemme zu zerstören. Alles ist
erlaubt, sonst wird es von uns verboten. Es gibt einen Live-Sampler
("Operation Pudel XL" mit den "Zitronen", "Rocko Schamoni", "Billy
Childish", "Helge Schneider", "Bo und Bodo aus Düsseldorf"), der die
Vielseitigkeit des Programms dokumentiert. Im Frühling 2001 fahren wir auf
eine Pudel-Tour mit DJ Koze und anderen Trinkern.
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???
Wie kamst Du zum ersten Mal mit den Hosen in Kontakt?
Schorsch Kamerun: Ich
kannte die Vorgängerband ZK und war deren süßester Fan. Circa 1981, 1982
habe ich dann mit einem Freund zusammen ein Konzert der Hosen in meinem
Heimatdorf Timmendorfer Strand veranstaltet. Ein toller Erfolg! Seitdem
sind wir in endloser heißer Liebe, wie nur Punx sie empfinden können.
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???
Wer hatte die Idee zu den "Für immer Punk" Aufnahmen?
Schorsch Kamerun: Das
Stück entstand zusammen mit Rocko. Wir fanden, dass so ein wichtiges Thema
mit vielen anderen geteilt werden musste und luden die damalige Elite der
deutschsprachigen Punkszene plus den "Alphaville"-Sänger ein mitzumachen.
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???
Wie beurteilst Du die musikalische Entwicklung der Toten Hosen?
Schorsch Kamerun: Die
Hosen sind sich in erster Linie treu geblieben. Sie schaffen es immer noch
genauso begeistert "Bommerlunder" zu spielen wie vor 20 Jahren. Ich
verstehe das nicht. Dafür bin ich aber auch nicht so beliebt wie zum
Beispiel der Breiti. | |
???
Wie heißt Dein DTH-Lieblingssong aller Zeiten?
Schorsch Kamerun:
Armee der Verlierer. | |
???
Die Süddeutsche Zeitung bezeichnete Dich zuletzt als "Pop-Anarcho" - wie
schätzt Du Deinen Status heute selbst ein? Wie wichtig ist linke Politik
heute für Dich?
Schorsch Kamerun: Tatsächlich versuche ich in all meinen
Kunstformen immer meine politische Haltung einzubringen. Ich glaube an die
Aussagekraft von Texten - und auch eine bestimmte Ästhetik kann
unmissverständlich sein. Ideale sind keine Mode, die man wegwerfen kann
wie einen Turnschuh, wenn man ihn nicht mehr mag. Nur sollte man von Zeit
zu Zeit das Transportmittel ändern, sonst wird es langweilig und keiner
schaut mehr hin. Deshalb werde ich kommendes Jahr in einem Bananenkostüm
auf einer Schlauchbootrakete im Vorprogramm der Hosen explodieren und
dabei meine Parolen brüllen wie etwa: "Und jetzt alle an die Wand, Ihr
Biersoldaten!" Der Rechtsradikalismus ist nicht plötzlich aufgekeimt, nur
die Presse erkannte das nach zehn Jahren Wiedervereinigung so ein Thema
mal wieder groß zurückkommen kann - und genauso werden sie es verschwinden
lassen. Rassismus und Totschlag gehören zur Normalität in Deutschland und
werden mal mehr, mal weniger beachtet. Ein NPD-Verbot - wenn es denn
durchkommt - würde die Partei nur bekannter machen. Danach würden die
selben Leute unbeobachteter etwas Ähnliches aufziehen, sich schlicht
umbenennen. | |
???
In diesem Jahr hast Du in Hamburg Hubert Fichtes Text "Die Palette" als
Regisseur auf die Bühne gebracht. Hat man sich das als "seriöses" Theater
vorzustellen - und wie kam es zum Engagement des Mitbegründers der Grün
Alternativen Liste (GAL) Thomas Ebermann?
Schorsch Kamerun: Das
Stück war der erste deutsche Roman der "beat generation". Es handelt von
einer Szene, Mitte der Sechziger, die keine Lust hatte, den
vorgezeichneten Weg "Ausbildung-Beruf-Familie" zu gehen und statt dessen
ganz bewusst erst mal gar nichts tat und mit allem Möglichen
experimentierte. Es wurde von mir als "anspruchsvolles Bühnenwerk"
(Breiti) aber sowas von superseriös in Szene gesetzt... Thomas Ebermann
ist ein altes Rhetorikidol von mir. Ich halte ihn für den besten Politiker
Deutschlands. | |
???
In Zürich arbeitest Du zur Zeit mit dem Videokünstler, DJ und
Schauspielregisseur Stefan Pucher zusammen - in Shakespeares
"Sommernachtstraum" - wie bist Du konkret an der Inszenierung beteiligt?
Schorsch Kamerun:
"Paul ist tot" von den Fehlfarben kommt nicht vor. Das ist eine weitere
Presselüge. Wir verwenden eher das weiße Album der Beatles als
Musikgrundlage. Ich selbst habe Texte ergänzt, an Stellen wo der feine
Herr Shakespeare mal ein wenig abwesend war. Außerdem singe ich ein
passendes Anarcho-Lied und muss jetzt monatelang jeden Abend am gleichen
Ort auftreten. Wenn das die OH-Subs mitkriegen...
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???
Was sind Deine Zukunftspläne?
Schorsch Kamerun:
Gerade erscheint mein neuestes Projekt "Sylvester Boy" - ein brutaler
Angriff auf ganz Amerika! Die Zitronen fahren im Januar nach Chile, um
eine neue LP aufzunehmen. Also: Platte - Tour - Platte - Tour... Nächstes
Jahr mache ich wohl mit Rocko zusammen ein Musical am Schauspielhaus
Zürich. Ansonsten wollen wir noch in diesem Jahr die Regierung stürzen.
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Schorsch Kamerun:´s Homepage http://www.pudel.com/ | |