ak - Zeitung für linke Debatte und Praxis /
Nr. 482 / 19.03.2004
14 Arten den Krieg zu beschreiben
Neue Bearbeitung der Brecht/Eislerschen
Kriegsfibel als CD veröffentlicht
Bei dem Berliner Label Polyphenia ist dieser Tage
die Kriegsfibel als CD erschienen. Jörg Mischke,
ehemaliger Musiker der Rio Reiser Band und bei Neues Glas
aus alten Scherben, hat die Vorlagen von Bertolt Brecht und
Hanns Eisler neu bearbeitet und arrangiert. 18 Stücke sind auf der
CD versammelt. Für die 14 Songs hat die Schauspielerin Kathrin
Angerer (Volksbühne Berlin) den Gesang übernommen. Mit ihrem an die
Bühnensprache angelehnten Gesang gelingt es ihr auf beeindruckende
Weise, das Grauen des Krieges stimmlich zu fassen. Am 27.3.2004 ist
die Bearbeitung der Kriegsfibel erstmalig in der
Berliner Volksbühne live zu erleben. Anders als auf der CD wird bei
der Bühnenaufführung auf elektronische Klangerzeugung bewusst
verzichtet. Hier stützen sich die Songs auf drei Instrumente:
Akkordeon, Flügelhorn und Piano. Dadurch werden die Arrangements
äußerst transparent, die Interaktion von MusikerInnen und Sängerin
rückt in den Vordergrund und die Stimme von Kathrin Angerer erhält
einen breiten Raum zur Entfaltung. Der Produzent Jörg Mischke
berichtet im Folgenden über die Entstehung der Neubearbeitung.
Die Idee zu einer Bearbeitung der Kriegsfibel trug ich
über lange Jahre mit mir herum. Zuerst hörte ich die Songs Mitte
der 1980er Jahre, ein Freund hatte sie zum Thema einer
Abschlussarbeit an der Berliner Musikhochschule gemacht. Seitdem
ließen mich diese einprägsamen Melodien und kantigen Harmonien
nicht mehr los. Es brauchte nur noch eine Gelegenheit, ihnen eine
neue Gestalt zu geben. Im Herbst 2002 ergab sich die Chance, bei
Polyphenia aufzunehmen. Aus dem Experiment, einzelne Songs aus der
Kriegsfibel in neuer Version einzuspielen, wurde ein
komplettes Projekt. Jeder der eigenständigen Songs geriet während
der Arbeit zu einer Herausforderung.
Aus Fotoepigrammen werden Lieder
Die Kriegsfibel ist zunächst einmal ein Buch. Brecht
sammelte während der Zeit seines Exils Fotos aus Zeitungen. Sie
tauchten in seinem Arbeitsjournal auf und einige versah er mit
pointierten Vierzeilern. Die Fotos zeigen Geschehnisse des Krieges
- Schnappschüsse von Tätern und Opfern, Dokumente der Zerstörung
und des Leidens. 1955 ließ er neunundsechzig dieser Bilder als
Kriegsfibel veröffentlichen. Diese folgen einer inneren Logik
der Zeit, der Orte und der Themen. Die Texte fügen den Fotos in der
Kürze von vier Zeilen eine Betrachtungsebene hinzu. Brecht nannte
sie "Fotoepigramme". Sie erklären nicht, sie kommentieren. Sie
mildern kein Elend, sie verweisen auf dessen Ursache und Kontext.
Damit zeugen sie von zeitlosen Einsichten in die Maschinerie des
Krieges.
1957 vertonte Hanns Eisler vierzehn dieser Fotoepigramme für
kleines Ensemble, Sänger und Chor. Diese Musiken sind von ebenso
prägnanter Kürze wie Brechts Texte, sie füllen kaum zehn Minuten.
Bei der Bearbeitung bestand der Reiz darin, aus diesen sehr kurzen
Stücken Songs zu bauen, ohne die Substanz zu verwässern. Die
entstandenen Cover-Versionen sind unterschiedlich weit entfernt vom
Eislerschen Duktus. Melodie und Harmonik folgen relativ streng der
Originalvorlage. Rhythmus, Instrumentation und Klangbild dagegen
sind Resultat der Studioarbeit mit zahlreichen elektronischen
Klangerzeugern. Viele Stücke wurden in der Form erweitert. Im
Ergebnis bekamen Songs, die bei Eisler sehr ähnlich angelegt sind,
gegensätzliche Arrangements, andere hingegen näherten sich in der
Gestaltung an, nicht zuletzt durch die Verwendung wiederkehrender
Instrumente (Klavier, Akkordeon, Flügelhorn).
Eisler beabsichtigte nach eigenen Aussagen, Zwischenmusiken zu
komponieren, hat dies jedoch nicht mehr ausgeführt. Um mit dieser
Herausforderung behutsam umzugehen, habe ich aus den vorhandenen
Musiken melodische und harmonische Splitter herausgelöst und neu
montiert. Sie ergeben sozusagen recycelten Eisler. Vorlage zu
diesen Instrumentals sind die Bilder 21, 31, 50 und 59 der
Kriegsfibel.
Der recycelte Eisler
Auf die Stimme von Kathrin Angerer stieß ich in einer
Dokumentation zu Kurt Weill. Bei der Interpretation des
Surabaya-Johnny erlebte ich sie zerbrechlich und entschlossen
zugleich. So sollten die Songs der Kriegsfibel klingen. Für
die sehr unterschiedlichen Arrangements bildet die Stimme auch eine
verbindende Klammer. Sie gibt den Songs, die im Original für
verschiedene Solo- und Chorstimmen konzipiert sind, eine gemeinsame
persönliche Dimension.
Rückblende: Um die öffentliche Resonanz der Kriegsfibel
sorgte sich Brecht schon sehr früh. Die Verkaufszahlen in Ost wie
West waren deprimierend, eine breite gesellschaftliche Debatte kam
nicht in Gang. In einem Brief vom Sommer 1956 schreibt er: "Vor
allem muß die Kriegsfibel in die Bibliotheken, Kulturhäuser,
Schulen usw. (...) Ich wäre gern bereit, an diese Stellen selbst zu
schreiben, denn diese tolle Verdrängung aller Fakten und Wertungen
über die Hitlerzeit und den Krieg muß bei uns aufhören."
Ein halbes Jahrhundert später haben die Songs nichts an Brisanz
verloren. Die Schauplätze wechseln - das Elend bleibt. Es läuten
Glocken, es krachen Salven, es wird gelitten und gestorben. Die
Songs sind vierzehn Arten, den Krieg zu beschreiben. Mit
geschliffenen Formulierungen, markanten Kontrasten, prägnanten
Tonfolgen: Juwelen ihres Genres.
Jörg Mischke
www.kriegsfibel.de
Kriegsfibel, Kathrin Angerer singt 14 Songs von Bertolt Brecht
und Hanns Eisler, POLYPHENIA,
E-Mail: info@polyphenia.de oder