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“Kai der Tränen”

UDO LINDENBERG: Atlantic Affairs
Udo Lindenberg steht am Ufer, genauer am “Kai der Tränen” in Bremerhaven. Ein Schattenbild mit Hut und Mantel. Ein Schiff aus New York läuft ein, um ihm 20 mysteriöse Koffer zu bringen, die er geerbt hat. In ihnen befinden sich “Songs aus dem Berlin der 20er Jahre – Noten, Texte, Filme und Storys von deutschen Künstlern, die in den 30er Jahren vor den Nazis nach Amerika flüchten mussten”.

Udo hat also eine Aufgabe: Dieses Vermächtnis in unsere Gegenwart stellen, eine Zeitbrücke bauen mit Erinnerungen an die Künstler und deren Träume, die es heute zu verwirklichen gilt. Also hat er sich der Herausforderung gestellt, das Material gesichtet und alte Songs mit neuem Groove & Stil eingesungen bzw. einsingen lassen. Der Maestro hat sich mit drei jungen, schönen Damen umgeben und auch den nicht minder jungen, schönen Tim Fischer ins Studio gelotst, um ein großes Gemeinschaftsprojekt zu realisieren. Auch Die Prinzen sind neben Ellen ten Damme, Nathalie Dorra und Yvonne Catterfield mit dabei. Atlantic Affairs heißt die neue große Show.

Für musikalische Farbtupfer sorgen Helge Schneider am Saxophon bei Bin nur ein Jonny und Elektroniker Alex Christensen (U96). Auch altbewährte Musiker aus panischen Zeiten sitzen mit im Boot, wie Kristian Schultze, Jean-Jacques Kravetz oder Dave King.

Der Opener ist eine typische Lindenberg-Ballade und Programm für die nächsten fast 60 Minuten zugleich: Stars, die niemals untergehen. Doch es folgen schräge, aufgepeppte und teils arg verfremdete Versionen traditioneller Lieder von Paul Abraham, Friedrich Hollaender und Werner Richard Heymann. Elektronische Beats flirten mit groovenden Bassläufen, während Udo am Mikro Platz macht für nicht untalentierte Sängerinnen, die sich jedoch stimmlich wenig unterscheiden und weder frech-frivol, noch wirklich liebevoll an frühere Interpretationen erinnern lassen. Da ragt dann ein Sample von Marlene Dietrich mit der gesungenen Zeile “Ich hab noch einen Koffer in Berlin” anmutig heraus. Weitere Highlights sind My Ship von Weill / Gershwin, von Udo Lindenberg alleine nur in Piano-Begleitung und auf englisch gesungen, oder die Spaß-Nummer Kannst Du pfeifen, Johanna? (wohlbemerkt, sie kann sogar singen, gurgeln und kichern). Das ist Udo, wie wir ihn lieben.

Manche Songs werden leider etwas überstrapaziert: Irgendwo auf der Welt könnte fast ein kleiner Ohrwurm werden, aber der Text – in gewohnter A-Capella-Manier von den Prinzen intoniert – wiederholt sich zu oft, so dass auch der schöne von Udo gesungene Part schnell langweilig wird. Der ruhige Klassiker Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre erscheint in der Klangkulisse einer Fabrikhalle mit Rockgitarren und gleichförmigen Drums. Künstlerische Freiheit eben und über Geschmack kann man bekanntlich nicht streiten.

Zum Ende des Albums hin wächst die Qualität. Die Emigranten Hans Eisler und Bert Brecht beschrieben ihre Gegenwart einst mit den Worten Es sind die finsteren Zeiten, das in der heutigen Version mit Klangcollagen untermalt übergeht in den Lindenberg-Song Father, you should have killed Hitler. Diese Rarität – aufgenommen 1981 in New York – erschien erstmals im Jahr 2000 auf der Udo-Lindenberg-Compilation "Das Beste ... mit und ohne Hut" (Telefunken / Warner). Der Song wird mit jedem Mal besser und hat auch gerade im Kontext der Atlantic Affairs eine bewusste Stellung und Bedeutung. Und so spinnt sich der rote Faden geschickt weiter zu einem traurigen Lied aus Theresienstadt: Ein Koffer spricht durch die Stimme von Tim Fischer, von Thomas Dörschel am Piano begleitet. Da sitzt man dann mit schauriger Gänsehaut und Kloß im Hals, denkt und träumt und plötzlich öffnet sich einem “das verlorene Paradies”, besungen von Udo und Yvonne Catterfield im wunderschönen Song Nangijala. Klavier und Streicher schaffen eine sphärische Stimmung, einen besonderen Moment.

Udo wäre nicht Udo, wenn er nicht auch provoziert und zu brandaktuellen Geschehnissen Stellung nimmt. Dies tut er auf diesem Album in Form einer Adaption des Songs “Ich hab noch einen Koffer in Berlin”, der nun zu einem Koffer für Berlin wird, der prall gefüllt ist mit pazifistischen Visionen, Wünschen und Träumen – “Seligkeiten moderner Zeiten”.

Als letzten Track gibt es für die Fans, die zuvor vielleicht enttäuscht waren, als Entschädigung noch eine typische Lindi-Nummer, denn Der Millionär hat keine Kohle mehr und stolpert noch nicht mal im Textfluss zu Synthie-Bumm-Bumm.

Das Gesamtwerk ist im Moment noch schwer einzuschätzen, hat Höhen und Tiefe, wird die Hörer entzücken oder vergraulen. Die wahre Größe erschließt sich wahrscheinlich erst, wenn die geplanten Aktionen im Herbst stattfinden: Atlantic Affairs als aufwendige & mehrdimensionale Bühnenshow auf Tour, die auch ins Ausland führt, sowie eine gleichnamige Fernsehverfilmung von Hark Bohm. Dann, so vermute ich, wird man den Soundtrack, der seit dem 27. Mai im Handel ist, als Erinnerungsinsel nicht mehr missen wollen und Udo Lindenbergs Maxime in ihrer eindringlichen Poesie begreifen: “Das ist nicht Anbetung der Asche, das ist das Weiterreichen des Feuers.”

Regina Sommerfeld

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