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Artikelarchiv CD-Kritik Rio Reiser Familienalbum
Die folgende Zusammenstellung von Besprechungen der Hommage an Rio Reiser - Familiealbum stammt von der Seite riolyrics, einer vorzüglichen und bestens sortierten Seite über Rio Reiser und Ton Steine Scherben. Dort findet ihr nicht nur zahlreiche Infos zu allen Platten, sondern auch viele zusätzliche Dinge wie Lyrics und die Gitarrentabs. Außerdem dort zum Download bereitgestellt ist das Buch "Guten Morgen". Also: In jedem Fall die Seite besuchen!! Und hier nun weitere Besprechungen zur Hommage an Rio Reiser....


www.sueddeutsche.de am 22.10.2003
11:52 Uhr
Autor: Bernd Graff

Neue CD: Rio Reiser "familienalbum"

"Wir leben nicht tralala in lustigen Zeiten."

Rio Reisers schwerblütig-heitere Songs wurden von aktuellen Künstlern neu eingespielt und ganz im Geiste ihres Urhebers sehr eigenwillig interpretiert: Die gelungene Hommage an den viel zu früh gestorbenen Anarcho-Romantiker.

"Ich singe düstere Inhalte ja mit einem Lächeln. Es gibt - wenn auch nur in geringem Maße - den Ausblick auf ein Happy End." Stimmt, Rio Reiser, der am 20. August 1996 im Alter von 46 Jahren viel zu früh verstarb, sang aus Verzweiflung und sang gegen seine Verzweiflung an - düster, mit einem Lächeln und dem fast trotzigen Willen zum Happy End, das indes niemals stattfindet.

" Die Romantiker um Reiser lieferten den Soundtrack zu einem Leben jenseits der bundesrepublikanischen Stille. "

"Ich müsste lügen," hat er in einem Interview ein Jahr vor seinem Tod der taz erzählt, "wenn ich sagen würde, dass ich keine Depressionen hätte. ... Außerdem leben wir ja nun mal momentan nicht tralala in den lustigen Zeiten, da kann man nur versuchen, diese Stimmung aufzunehmen. Das war ja bei den Scherben schon genauso."

Die "Scherben", damit ist die Berliner Anarcho-Rebello-Macho-Visio-Poeto-Band "Ton Steine Scherben" gemeint, das Agitrock-Kult-Quartett der siebziger und halben achtziger Jahre, das von Reisers Inspirationen lebte und schon mit seinem ersten Hit "Macht kaputt, was euch kaputt macht" den Nerv der Zeit traf und dessen Zuckungen fortan musikalisch befeuerte. Die "Scherben", die ihren Namen beim Troja-Entdecker Heinrich Schliemann entwendeten - "Was ich fand, waren Ton, Steine, Scherben" - waren die zornigen jungen Männer einer Westberliner Nudelsalat- und Hinterhof-Revolte, die oft genug für einen Hunger-, wenn nicht gar Gotteslohn aufspielte. Aber immer am richtigen Ort zur richtigen Zeit.

Die Romantiker um Reiser lieferten demnach den Soundtrack zur Wut auf den Nato-Doppelbeschluss, zur zaghaften Aufbruchsstimung nach den ersten Hausbesetzungen - zu einem Leben jenseits der bundesrepublikanischen Stille also, das sich ebenso engagiert wie illusionslos gab, aber das Träumen doch nicht ganz sein lassen konnte.

1985 trennte sich die Gruppe - finanziell am Ende. Die ehemalige Grünen-Chefin Claudia Roth war übrigens Managerin der "Scherben".

" Eine Art vorweg genommene Joschkaisierung. "

Reiser aber sprachformte weiter und avancierte danach solo zum Popstar: In die Charts rückte er 1986 mit seinem "König von Deutschland", die erste LP "Rio I" enthielt laut "Emma" das "schönste Liebeslied des Jahres" und "die schönste Aufforderung zu strafbaren Handlungen ("Für immer und Dich", "Laß uns das Ding drehen"). Die Grünen stellten sich im Wahlkampfjahr mit dem Slogan und dem Titel "Alles Lüge" vor. Rio engagierte sich in der Anti-Atom-Bewegung, u.a. mit seinen Beiträgen auf dem 5. Anti-Waahnsinn-Festival in Burgengenfeld. Im Oktober 1988 trat er in Ost-Berlin auf. Für zwei Konzerte hatte die FDJ Reiser gewinnen können, einzige Bedingung: den Ton-Steine-Scherben-Klassiker "Keine Macht für Niemand" solle er doch bitte nicht singen. Reiser kam, wie üblich barfuss, und sang gleich zu Beginn den "Grünen"-Titel "Alles Lüge". So viel Rebellion musste schon sein.

Dennoch: Seine Fans schwankten zwischen Bewunderung und Verachtung für den zum "Volkssänger" (Frankfurter Rundschau) gewendeten Poeten. Anpassung warf man ihm vor, weil er Schlagertexte für Marianne Rosenberg schrieb, für die er sogar einen Preis bekam, oder aber: man lobte ihn gerade deswegen für seine geniale Fortentwicklung. Eine Art vorweg genommene Joschkaisierung also, die von einer Seite "Verrat an alten Idealen" schimpft und auf der anderen die Professionalisierung des gestandenen Realo lobt. 1990 trat er in die PDS ein und wurde, nach Gregor Gysi, das zweitprominenteste Mitglied der Partei. Auch für sie spielte er im Wahlkampf.

Reiser, eine schillernde, eine einflussreiche und eine genuine Figur der deutschen Pop-Geschichte also. Eine, die wohl nur zu einem dezidierten historischen Augenblick möglich war, die aber dennoch zeitlose Stücke produziert hat.

edel records ist es darum zu danken, dass sie nun in einer großartigen Hommage an Reiser und seine schwerenblütigheiteren Lieder erinnern. "familienalbum" ist die wunderbare, von Franz Plaza produzierte CD betitelt, die aktuelle Bands und Interpreten versammelt, um Reisers Musik (und Texte) neu einzuspielen. Ein gelungenes Experiment: Gestandene Songschreiber und Musiker der Gegenwart reiben sich da an Reiser, interpretieren, akzentuieren neu und immer individuell - aber immer Reiser-gerecht.

Xavier Naidoo und die Söhne Mannheims entdecken in ihrer Version von "Mein Name ist Mensch" (vom Album "Warum geht es mir so dreckig?", 1971) marschbetonte Rhythm&Soul-Elemente, Nena rockt "Schritt für Schritt ins Paradies" (vom Album "Keine Macht für Niemand", 1972). Die junge Band Wir sind Helden bleibt sentimental mit "Halt Dich an Deiner Liebe fest" (vom Album "Wenn die Nacht am tiefsten", 1975). Fast Rammstein-wütend dagegen Joachim Witt mit dem zwanzig Jahre alten Rechenschaftsbericht "Wo sind wir jetzt" (vom Album "Scherben", 1983). Natürlich fehlen auch die großen Hits nicht: Ferris MC intoniert den "König von Deutschland", die Familie Schlegl erkennt immer noch und wieder, dass "Alles Lüge" ist. Und Marianne Rosenberg wartet mit der etwas trägeschleppend eingespielten, von Emma schon gelobten Liebeshymne "Für Immer Und Dich" auf. Fettes Brot definieren "Ich bin müde" (vom Album "Am Piano II", 1999) neu - mit fast Udo-Lindenbergschem Schalk im Nacken.

Nach dem Genuss dieses Albums, das an keiner Stelle eine historisierende Verbeugung vor dem großen Reiser-Meister ist, sondern seine Stücke sehr souverän in die Echtzeit übersetzt, fehlen einem neue Ideen und musikalischen Eskapaden des komisch-traurig-harten Barden darum sogar noch mehr.

In besagtem taz-Interview sagt der Reporter an einer Stelle: "Mir tut der Mensch, der da singt, leid." Und Rio antwortet: "Das kannste dir sparen, so schlimm ist es nicht."

"Familienalbum"

Release: 27.10.2003

Label: Safety Records - Mit Sicherheit Musik GmbH

Vertrieb: edel records




Spiegel Online am 03.11.2003

Ressort: Abgehört

Autor: Andreas Borcholte

Die wichtigsten CDs der Woche

Neues von Ryan Adams, Damien Rice, Dashboard Confessional, The High Llamas und eine musikalische Hommage an Rio Reiser.

Diverse - "Rio Reiser Familienalbum"

Safety Records/Edel)

Der arme Rio, er kann sich ja nicht mehr wehren. Unter der Ägide des Hamburger Pop-Produzenten Franz Plasa, der seit Selig und Echt nichts Gutes mehr auf die Spur gebracht hat, versammelten sich die Großen und Kleinen der deutschen Musik zu einem "Familienalbum" zu Ehren des 1996 verstorbenen Liedermachers. Nun kann man sich fragen, ob Reiser, Zeit

seines Lebens ein toleranter und weltoffener Mensch, auch Nieten wie den Viva-Moderator Tobi Schlegl oder den banalen Jüngling Marlon als "Familie" bezeichnen würde. Letzterer trällert sich durch eine völlig überflüssige Version des ohnehin überstrapazierten Gassenhauers "Junimond", während Schlegl bei "Alles Lüge" gerade noch an der größten Peinlichkeit vorbei schrammt. Doch es gibt auch Glanzlichter, wenn auch wenige: Die Sterne rocken sich lakonisch durch den Scherben-

Klassiker "Wenn die Nacht am tiefsten", die Nachwuchs-Stars Wir sind Helden geben eine wunderbar spröde Version von "Halt Dich an Deiner Liebe fest" und die Söhne Mannheims (samt Naidoo) drücken der Hymne "Mein Name ist Mensch" ihren religiösen Stempel auf. Das ist auch nicht toll, aber allemal interessanter als die Vergewaltigung von "Wo sind wir jetzt" durch Joachim Witt, Nenas hysterisches "Schritt für Schritt ins Paradies" oder Marianne Rosenberg, die sich mit zu

viel Koloratur durch "Für immer und Dich" schmachtet. Aber zum Glück sind Reisers Songs so robust, dass sie all das ertragen: Noch nicht einmal der grausame HipHop-Clown Ferris MC kann dem "König von Deutschland" etwas anhaben. Man vermisst ihn nur noch ein bisschen mehr.




die tageszeitung am 04.11.2003

Ausgabe 7199, S. 18

Autor: Jörg Sundermeier

Hohn, Feinde, Schergen

Die Erinnerung liegt in Trümmern, und jeder nimmt sich, was zu passen scheint. Mit einer Sammlung von zweifelhaften Rio-Reiser-Coverversionen versucht die Tributplatte "Familienalbum", den Ton-Steine-Scherben-Sänger nachträglich zur Vaterfigur einer großen deutschen Popfamilie zu machen.

Nichts ist, wie es bleibt. Diese Einsicht fällt Linken oft schwer. Konservativen dagegen erschließt sich dieser Satz erst gar nicht, denn einem Konservativen erscheinen Geschichtsverläufe als quasinatürlich, sodass Werte unverändert tradiert werden können. Linke hingegen versuchen eigentlich, gegen die Geschichte aufzustehen, was heißt: Sie halten die Welt für

veränderbar. Doch sie lieben Ikonen. Daher ist eines der großen Probleme der Linken: ihre Toten. Ob Parteivorsitzender oder kleiner Arbeiterfürst - sind sie tot, ist ihr Erbe zur mutwilligen Interpretation freigegeben.

Auch Rio Reiser, der einstige Ton-Steine-Scherben-Sänger, soll, seit er tot ist, von seiner Familie und anderen Figuren aus dem Scherben-Umfeld zu einer nationalen Rock-Pop-Ikone stilisiert werden. Die Voraussetzungen dafür sind gut: Reiser, ein guter Sänger und Texter, hat leider nur selten gegen den Produktionsstandart ankämpfen können, der in deutschen Tonstudios gepflegt wurde. Durch das Eindrängen der Reiserschen Texte und des trockenen, leicht rauchigen Gesangs in einen unsouveränen, gleichmacherischen Sound, gegen den selbst eine gute Komposition kaum ankommt, wurde Reiser nie zu einer Art Fassbinder, also zu einem Star, der das allgemeine deutsche Aufbegehren gegen Starfiguren ignoriert und sich seine Eigenheiten bewahrt hat. Reiser wurde zu einem Volksbarde, sei es nun mit der x-ten Wiederholung von "Macht kaputt, was euch kaputt macht" oder aber dem billigen Song "König von Deutschland", auf dessen verdruckste Ich-Anmaßungen sich eine breite Hörerschaft einigen konnte. Anders allerdings als die ehemalige Scherben-Managerin Claudia Roth gab sich Reiser nicht plötzlich der Macht hin, sondern suchte Widerstand, wenn auch nur im Kleinen. Wenn sich Claudia Roth heute gern an Reiser erinnert, erinnert sie sich an den Mann, der zuletzt nicht für sie und die Ihren, sondern für die PDS auftrat. Jetzt aber, da Reiser tot ist, reklamiert ihn Roth wieder für sich.

Ähnlich hält es die Familie des Toten. Sie unterstützte die Auslobung eines Rio-Reiser-Songpreises, der vor zwei Jahren Teilnehmern das Thema "Heimat" vorgab. Im Pressetext hieß es damals: "Wie sollte man authentisch sein Lebensgefühl in einem Song ausdrücken, wenn man nicht ehrlich sagt, was einen bewegt, wie sollte man Lieder machen, die ,zu Herzen' gehen oder sich selbst und andere auf die Straße treiben, wenn man nicht davon singt, wie man sich zu Hause fühlt - in seiner Heimat, die man liebt oder die man hasst, nach der man sich sehnt oder die man nie wieder sehen will?" Die Familie wolle "die gesamte Scherben-Geschichte in eine Familiensaga umbauen", mutmaßt Wolfgang Seidel, Mitbegründer und ehemaliger Drummer der Scherben. "Heute wird sehr viel über die Person Rio Reiser geredet, aber wenig über das, was in den Scherben sonst noch drin war. Erstaunlich wenig wird vom Rio-Reiser-Archiv, das stolz darauf ist, jeden von Rio

beschriebenen Zettel zu horten, über die Inhalte der Lieder geredet."

Dementsprechend kommt nun eine Compilation auf den Markt, die die Plattenfirma als "Das Tribute Album des Jahres" bewirbt und auf welcher eine illustre Künstlerschar Reiser-Songs covert. Nicht nur Reiser zu Lebzeiten nicht verbundene Leute wie Nena oder die Fehlfarben sind dabei, nein, auch Fettes Brot und die Bands Paula, Wir sind Helden oder Die Sterne mischen mit. Xavier Naidoo und seine Band Die Söhne Mannheims geben dem Song "Mein Name ist Mensch" einen quasireligiösen Anstrich, und Ferris MC erlaubt es sich, den "König von Deutschland" nicht nur in Hinblick auf Schröder, Bush jr. oder Oli P. zu "aktualisieren", nein, er betont auch, dass er sich als König von Deutschland die Liebe von zweihundert Frauen wünsche. Das dürfte ganz in Reisers Sinne sein. Joachim Witt macht aus "Wo sind wir jetzt" einen Nationalrock-Stampfer.

Einzig Marianne Rosenberg singt mit einigem Recht den Song "Für immer und dich", den ihr Reiser seinerzeit anbot, den sie jedoch ablehnte, weil er ihr damals "zu sentimental" war.

Bis auf diese Interpretation scheint das Album nur einen Sinn zu haben: das, wofür die Scherben einst standen, die Idee des "Was wir gemacht haben, kann jeder machen" zugunsten eines Starkultes aufzugeben und Rio Reiser zur Vaterfigur einer national gedachten großen deutschen Popfamilie zu stilisieren. Anders lässt sich der Titel des Albums und die Zusammenstellung der Künstler nicht verstehen.

Reiser ist jetzt ein deutscher Star. Dieser Rio Reiser hat mit dem, der lebte, nur noch wenig zu tun.

V. A.: "Rio Reiser: Familienalbum - Eine Hommage" (Safety Records/Edel)




junge Welt am 08.11.2003
Ressort: Feuilleton
Autor: Wolfgang Seidel
 

Man singt deutsch

 

Heimatglück und Wurstgewalt: Was nicht paßt, wird passend gemacht – der Rio-Reiser-Gedächtnissampler »Familienalbum« (1)

 

Alle Jahre wieder – Weihnachtsbaum, Weihnachtsgans und Weihnachtsmusik. Dieses Jahr legt uns die Musikindustrie ein besonders familienförderndes Stück musikalischer Heimatkunde ans Herz und vor allem auf die Ladentische: Rio Reisers »Familienalbum«, zu dem mir folgendes Produktinfo der Plattenfirma ins Haus flatterte: »Interpreten, die mitunter selber ernsthafte Songschreiber sind (...) verbeugen [sich](...) vor der wegweisenden Band Ton Steine Scherben (...) deren kompositorische und lyrische Kraft von jeder neuen Jugend aufgesogen, umgesetzt und verbreitet wurde, speziell musikalisch.« »Mitunter ensthaft« – was soll das heißen? Und »aufgesogen« klingt unappetitlich. Aber es ist ja nur »speziell musikalisch«, weswegen auch der Verfassungsschutz in Ruhe Weihnachten feiern kann.

Ton Steine Scherben apostrophierten sich öfter als Scherben-Family. Mit dem strunzdeutschen Dreiklang aus Familie, Volk und Vaterland hatte das allerdings nichts zu tun. Sie texteten: »Ich will nicht werden, was mein Alter ist« – und schufen sich ihre Familie selber. Nicht durch mythische Blutsbande zusammengehalten, sondern geeint durch den Willen, gemeinsam ein anderes Leben möglich zu machen als das, in das man hineingeboren. Wenn die leibliche Familie Möbius in Fresenhagen, dem Bauernhof der Band, an die Vordertür klopfte, kam es schon mal vor, daß sich Rio Reiser (bürgerlich: Ralph Möbius) durch die Hintertür aus dem Staub machte.

Daß der Ursprung der Familie mit Privateigentum und Staat zusammenhängt, weiß auch Peter Möbius, der älteste von Rios Brüdern und Nachlaßverwaltern. Auf die Frage nach dem Besonderen am als »Gedenkstätte« firmierenden ehemaligen Bauernhof der Scherben, antwortet er: Dort würden sich friedlich Bürger und Punks treffen, da spielten »Fuchs und Gans gemeinsam Federball«. Was er vergessen hat: In dieser Gesellschaft fressen immer noch die Füchse die Gänse. Die Bürger stört's nicht. Sie sind die Gewinner. Und die, die Peter Möbius für Punks hält, stören offenbar die Fresenhagener Friedhofsruhe nicht durch allzu bohrende Fragen, wie sich dieses Verhältnis ändern könnte.

Die Scherben machten sich keine Illusionen über die gesellschaftlichen Widersprüche. Bei denen klang das so: »Musik kann zur gemeinsamen Waffe werden, wenn du auf der Seite der Leute stehst, für die du Musik machst. (...) Unser Publikum sind Leute unserer Generation: Lehrlinge, Rocker, Jungarbeiter, kriminelle Jugendliche (...) in und aus Heimen. Von ihrer Situation handeln unsere Songs.« Das »Familienalbum« läßt davon nichts übrig. Das einzige Band, das diese Musikerfamilie zusammenhält, besteht darin, daß man deutsch singt. Den Scherben aber war es egal, in welcher Sprache sie sangen – es ging ihnen darum, was sie sangen. Sie sagten klipp und klar, für wen sie Musik machen. Das unterschied sie deutlich von Bands, die von möglichst »jeder Jugend« geliebt und vor allem gekauft werden sollen. Was verbindet die Scherben mit Musikern, die in Marketingseminaren lernen, zielgruppengerecht zu gefallen?

Wie man da »Tribut« zollt, zeigt die Teilnahme von Joachim Witt. Er nervt auf Familienfesten immer mit rollenden Augen, macht Rrrrr und schwafelt von Vorsehung und alles reinigender Flut.

Witt hat eben mal rechts geblinkt, ohne wirklich abzubiegen. Da seine »Flut« aber bloß ein Brei aus Dummheit und Opportunismus war, hat er nun den schlechten Ruf der Böhsen Onkelz, ohne deren treue und zahlende Gefolgschaft. Er darf nun die Frage stellen, »Wo sind wir jetzt?« Ein Scherbencover als Persilschein, damit die Mitte ihn wieder zwischenläßt. Den stellt ihm die Rio-Reiser-Blutsfamilie gerne aus.

Das dürfte so ähnlich gelaufen sein wie beim Techtelmechtel mit dem Verein Deutsche Sprache beim Rio-Reiser-Songpreis (junge Welt 12.8.03). Gert Möbius, Leiter des »Rio Reiser Archivs«, sagte dazu in einem Interview des Bayerischen Rundfunks: »Es tauchte jemand auf – ich weiß nicht einmal den Namen – von dem Verein. (...) Sie haben uns 2500 Euro angeboten. Ich kannte die gar nicht. Wir haben dann nachgefragt bei der Bundeszentrale für politische Bildung, weil die das ja eher rausbekommen, was das für ein Verein ist. Die haben dann recherchiert und (...) herausgefunden, daß der Verein nicht rechtsradikal ist, sondern es sind Bürger, es sind Professoren drin, Doktoren und viele Deutschlehrer und ähnliche Leute.« Richtige Doktoren und Professoren – das schmeichelt der Eitelkeit ungemein. Deutschlehrer? Meiner war Gründer der neofaschistischen Artgemeinschaft e.V..

(Der Autor war Schlagzeuger in der Urbesetzung von Ton Steine Scherben)




Junge Welt am 10.11.2003
Ressort: Feuilleton
Autor: Wolfgang Seidel
 

Lebenslang im Warenhaus

 

Heimatglück und Wurstgewalt: Der Rio-Reiser-Gedächtnissampler »Familienalbum« (2 und Schluß)

 

Der Vorwurf der Verramsche wird für das unlängst veröffentlichte »Familienalbum« dadurch relativiert, daß es ehemalige Mitglieder der Scherben waren, die damit begannen, neues Geld aus alten Scherben zu machen. Alle, die von der Geschichte der Scherben profitieren wollen, finden sich mit dem Produzenten des »Familienalbums« in einem Satz des Produktinfos wieder: »Politisch motiviert begann er [Rio Reiser] 1970 als Texter, Sänger und Gitarrist (...) rebellische Texte in deutscher Sprache mit für damalige Zeit progressiver Rockmusik zu verbinden«.

»Politisch motiviert« stammt aus dem Vokabular von Richtern und Staatsanwälten, die mit der Verfolgung linker Straftäter beauftragt waren und sind. »Politisch motivierte Straftat« heißt: Der Angeklagte mag politische Motive haben, die Tat selber hat damit nichts zu tun und ist einfach ein gemeines Verbrechen. In Reisers Fall bedeutet das: Politische Motive mag es gegeben haben, jetzt aber sind sie Geschichte. Geblieben ist die Musik. Die wird bestraft mit lebenslang – lebenslang im Warenhaus.

Damit das funktioniert, muß jemand die Ware kaufen. Vor der Ware kommt die Verpackung, in diesem Fall das Booklet. Verglichen mit der dümmlichen Prosa des Presseinfos beschränkt es sich auf das Nötigste. Die Scherben sind spurlos verschwunden. Ärgerlich, daß wieder einmal eine Kollektivleistung zu einem dubiosen Geniekult zurechtgebogen wird, bei dem sich die Familie ordentlich selber beweihräuchert. Statt Scherben-Fotos findet man Bilder der Gebrüder Möbius. Von denen trennten sich die Scherben samt ihrem Sänger, der bürgerlich Ralph Möbius heißt, ganz früh. Deren Angewohnheit, sich mit fremden Federn zu schmücken, nervte schon damals. Die Scherben können sich freuen, nicht in diesem Brei mitverrührt zu werden.

Große Teile der CD sind zu belanglos, als daß es sich lohnte, darüber zu reden. Das Zeug ist nur drauf, weil dessen Produzent identisch ist mit dem des »Familienalbums«. Er nutzt es als preiswerte Werbeplattform. Hauptsächlich bediente man sich diverser Lieder aus Rios später Solozeit, die für ihn irgendwann nur noch lästige Pflichtübung waren. Er mußte Verträge erfüllen und brauchte Geld. Und so sind sie auch, die Lieder. Was jetzt gedankenlos abgefeiert wird, waren für Rio Nägel zum Sarg. Ein paar der Beiträge des »Familienalbums« allerdings lohnen einen Blick.

Nena: »Schritt für Schritt ins Paradies.« Immerhin, Nena widersetzt sich musikalisch der ehernen Einteilung der Geschlechter. Ein alter Scherben-Song, ein Lied aus einer Zeit, in der es um mehr ging, als sich die Rente zu erspielen. Ein Song, den die Scherben erst nach einigem Zögern veröffentlichten. Die Kritik damals: zu schwammig in der Aussage. Der Song paßt zu Nena. Herausgelöst aus seinem ursprünglichen Kontext, läßt er sich beliebig auffüllen. Welches Paradies? Und welcher Weg dorthin? Diese Unbestimmtheit funktioniert hervorragend, genau wie bei Nenas Erfolg »Carpe Diem«. Da sieht sie »Zeichen« und »macht sich bereit«. Was sie tatsächlich sieht, darf jeder nach Belieben einsetzen. Zollt man einer Band Tribut, die ausschließlich wegen ihrer Eindeutigkeit geschätzt wurde und wird, hätte aber genau diese politische Haltung einziges Vorbild sein müssen.

Wir sind Helden: »Halt dich an deiner Liebe fest.« Sie stapfen in die Latschen einer anderen, mittlerweile fast vergessenen Teenie-Band. Echt haben mit »Junimond« das Recycling erfolgreich vorgemacht. Die Helden versuchen es nun mit dem sehr ähnlichen Liebefesthalten. Ein unsicherer Halt, wenn man bedenkt, daß ein erheblicher Prozentsatz der hier versammelten Lieder von Enttäuschung, Verrat und ähnlichen Vorzügen der Zweierbeziehung handelt. Die Sängerin will Trost spendieren beim ersten Liebeskummer. Karaoke fürs Kinderzimmer oder Trost beim Sozialabbau?

Fettes Brot: »Ich bin müde.« Hätte ich auf einer fetten Platte ganz nett gefunden. Aber warum machen die Brote bei einem Projekt mit, wo ein Blick auf die Teilnehmerliste genügt, zu sehen, daß der angebliche Respekt vor Rio ad absurdum geführt wird? Das gilt auch für Sterne und Fehlfarben. Offenbar hatten die Produzenten ein bißchen Angst vor Joachim Witts Auftauchen und haben die Fehlfarben als Entschuldigung auf den Platz nach Witt gesetzt. Und die waren über den angebotenen Sitzplatz froh. Oder sie stehen, wie Rio, knietief im Dispo.

Die Söhne Mannheims & Xavier Naidoo: »Mein Name ist Mensch.« Typisch Jungs, doofer Eier-Rock mit einer Prise Black Music, die ahnen läßt, daß es auch noch eine Welt jenseits des deutschen Wohn- oder Kinderzimmers gibt. Naidoo nervt mit seiner TV-Prediger-Religiosität, die in ihrer simplen Einteilung der Welt in Gut und Böse, Heilige und Huren, ein reaktionäres Menschenbild propagiert und damit Positives wie seine Beteiligung am antirassistischen »Brothers Keepers«-Projekt relativiert. Über Gottes Gebote diskutiert man nicht. Das unbedingte Plädoyer der Scherben für individuelle Freiheit paßt nicht zu Naidoos Unterwerfung des Menschen unter religiöse Gebote, deren Vorstellung von Reinheit und Ritual nur die andere Seite der Medaille der konservativen Vorstellungen von Volk und Heimat sind. Aber Motto des Samplers ist: was nicht paßt, wird passend gemacht. Das Janusköpfige der Musik der Söhne zeigt sich auch in der betonten digitalen Härte, die sie mit Witt, ihrem scheinbaren Antipoden, vereint.

Joachim Witt: »Wo sind wir jetzt«. Der Aldi-Wagner für die bösen Jungs, die unter der Bettdecke von Columbine High oder, ganz aktuell, von Overath und riesigen Pumpguns träumen. Wenn Witt mit seiner Mischung aus Kasernenhof und Schmierentheater »ihr macht mich kalt« singt, sieht man ihn vorm Spiegel mit hervorgerecktem Kinn posieren und der Welt Rache schwören. Wenigstens hat er sich nicht »Der Kampf geht weiter« ausgesucht. Das hätte bei ihm wie eine Drohung geklungen.

Egal, ob der eine oder andere Beitrag auf dieser CD musikalisch akzeptabel ist, was nicht nur mit Geschmack zu tun hat, wer sich mit Witt auf einem angeblichen Rio-Reiser-Tribute-Sampler vereinigt, muß sich mindestens Gedankenlosigkeit vorhalten lassen und in Zukunft Schnauze halten und Platten verkaufen. Wer aber warnt die armen Tanten?

* V. A.: »Rio Reiser: Familienalbum – Eine Hommage« (Safety Records/Edel)

(Der Autor war Schlagzeuger in der Urbesetzung von Ton Steine Scherben)




Der Standard (Österreich) am 13.11.2003

Autor: Christian Schachinger

Es lebe der König von Deutschland

Auf einem "Familienalbum" würdigt musikalischer Nachwuchs den 1996 gestorbenen Deutsch-Rock-Urahn Rio Reiser

1996 starb mit Rio Reiser die zentrale Gründerfigur einer eigenständigen deutschsprachigen Rockmusik. Mit Ton Steine Scherben entwickelte er in den 70er-Jahren seine subversive Kunst: "Macht kaputt, was euch kaputt macht!" Auf der CD "Familienalbum" zollen ihm nun seine Enkel Tribut.

Wien - "Was ich fand, waren Ton, Steine, Scherben." Heinrich Schliemann, Entdecker von Troja (1822-1890)

Zwei Beistriche weniger und gut hundert Jahre später gründete sich um 1970 in der Frontstadt Berlin mit Ton Steine Scherben eine Musikerkommune, die nicht nur politisch bewegt während der APO-Zeiten ihr Management, die Produktion und den Vertrieb ihrer Tonträger selbst in die Hand nahm.

Mit ihrer an eine rumpelige Version der Rolling Stones erinnernden Musik definierten Ton Steine Scherben mit Alben wie Keine Macht für Niemand oder Wenn die Nacht am tiefsten ... die bis dato strikt an US-Vorbilder angelehnte sündige Popkunst der "Besatzer" für den deutschen Sprachraum neu. Die Inhalte? Der Spiegel merkte dazu an: "RAF und Kifferblues, Küchentisch und Straßenfest, Orgasmusschwierigkeiten und Produktionsverhältnisse, Karl May und Karl Marx, Agit-Lyrik und wohlverstandenes Christentum."

Dank dem charismatischen und sein Herz auf der Zunge tragenden Sänger und Texter Ralph Möbius alias Rio Reiser wurden hier nicht länger internationale Vorgaben plump eingedeutscht. Dank Rio Reiser wurde die deutsche Sprache im Pop und Rock zur eigenen poetischen Kraft. Weil man sich seine Naivität und sein wegen all der Ungerechtigkeit in der Welt rasendes Herzblut auch im Erwachsenenalter behalten soll: Die unvergleichliche Mischung aus "Wut, Poesie, Schmerz, Verzweiflung, Aufbegehren, Liebe und Traum" (Musikexpress, 1983) sucht trotz des bald aufgekommenen Punk und der Neuen Deutschen Welle bis heute ihresgleichen.

Immerhin verdanken die Einstürzenden Neubauten um Blixa Bargeld mit ihren zentralen Arbeiten (Kollaps, Die Aufzeichnungen Des Patienten O.T., 1/2 Mensch . . .) Rio Reiser ebenso viel wie etwa der sich ebenfalls auf Rio Reiser berufende Peter Hein. Der schuf 1980 mit den Fehlfarben und Monarchie und Alltag nicht nur die damals beim Erscheinen über die nihilistische wie gleichzeitig moralisch-bewegte Haltung des Punk definierte Blaupause der Musik von Rio Reiser neu. Er deutete das Wir-Gefühl der 68er-Generation als isoliertes Ich auch bis heute gültig.

Rio Reiser nannte sich übrigens sehr passend nach der autobiografischen, Ende des 18. Jahrhunderts erfundenen Romanfigur Anton Reiser ("Von der Wiege an unterdrückt . . .") des deutschen Dichters Karl Philipp Moritz. Dieser sollte damit im Zeitalter der Aufklärung als sozusagen evangelisches Gegenkonzept die Entwicklung des psychologischen Romans entscheidend mitprägen. Er scheiterte aber an der übermächtigen Aufgabenstellung. Der Parallelen zum Menschen Ralph Möbius wären hier viele, wie sich in Reisers Erinnerungsband König von Deutschland nachlesen lässt.

Rio Reiser wandte sich ab Mitte der 80er-Jahre jedenfalls bis zu seinem Alkoholtod im August '96 einer Solokarriere zu. Er unterschrieb einen heftig von seiner Stammhörerschaft angefeindeten Plattenvertrag mit der Großindustrie. Er unterstützte bei Wahlkämpfen in Deutschland - ebenfalls umstritten - die Grünen und landete mit Liedern wie König von Deutschland oder Alles Lüge veritable Hits.

"Ich bin müde"

Eine späte Hommage liegt nun mit der CD Rio Reiser - Familienalbum vor (Vertrieb: Edel). Darauf bekennen sich zwar würdige Vertreter wie die Fehlfarben, Wir Sind Helden oder Die Sterne zum väterlichen Einfluss. Immerhin können Klassiker wie Halt Dich an Deiner Liebe fest oder Wenn die Nacht am tiefsten auch heute noch überzeugen. Unter der Regie von Produzent Franz Plasa wurden mit dem Schielen nach Verkaufserfolgen allerdings auch Rapper wie der unselige Ferris MC, eine krächzende Nena oder Teenie-Popper Marlon verpflichtet, der einmal mehr den schon von Echt totgespielten Junimond versenkt.

Als einziges Verdienst, abgesehen von der Tatsache, dass hier an einen beinahe vergessenen Großen erinnert werden soll: Xavier Naidoo und die Söhne Mannheims erweisen sich bei Mein Name ist Mensch als würdige Soul-Gruppe, wenn sie nicht gerade selbst aus dem Alten Testament zitieren. Und die Hamburger Rapper Fettes Brot liefern mit der fantastischen Interpretation des Stücks Ich bin müde einen Song des Jahres. Suchen Sie aber bitte trotzdem das Original. Es lohnt sich.




tip im November 2003

Ausgabe 23/03

Autorenkürzel: lieb (Hagen Liebig)

Urteil: Zwiespältig

Verschiedene: Rio Reiser Familienalbum (Edel)

Viel Freund, wenig Ehr

Wie kann man einen gemeinsamen Nenner finden, wenn Fettes Brot, Fehlfarben, Nena, Tobi Schlegl, die Sterne oder auch Marianne Rosenberg Rio Reisers Lieder covern? Das gelingt dem Autor nicht, und auch Produzent Franz Plasa ist gescheitert. Zu verschieden sind die Qualitäten und Ansätze: Die Brote glänzen mit einer groovy Interpretation von "Ich bin müde", Nena rockt passabel "Schritt für Schritt ins Paradies", und die Söhne Mannheims haben genug Pathos für "Mein Name ist Mensch". Aber Schlegls "Alles Lüge"-Abklatsch, Ferris MC als "König von Deutschland", Witts wagnerischer Wüten zu "Wo sind wir jetzt?" - aus, Schluss, Löschtaste!




Rolling Stone im November 2003

Ausgabe 11/03

Autor: Joachim Hentschel

Wertung 2/5

Diverse

Rio Reiser Familienalbum

Alle wollen Rios Lieder singen, aber nur wenigen gelingt es richtig.

Wir müssen nicht sinnlos über den Sinn eines Rio-Reiser-Coveralbums argumentieren, wir sollten überlegen, was es für die zwölf alten und jungen deutschen Pop-Acts bedeutet, bei einem solchen Coveralbum dabei zu sein. Ein Hieb in die Fresse des Kapitalismus ist es nicht, aber immerhin noch ein leicht vorwurfsvolles Wangenpatschen. Idioten bekommen die Chance zur öffentlichen Verbrüderung, ach was, zum öffentlichen Bekenntnis, denn die alten Lieder sind ja noch heute irgendwie voll brisant. Der Witzbold, der übrig bleibt, covert dann "König von Deutschland". Es ist Ferris MC.

Das endgültige Urteil muss unterbleiben, weil ich es beim besten Willen nicht geschafft habe, bestimmte Beiträge bis zum Schluss zu hören, das geraprockte "Mein Name ist Mensch" der Söhne Mannheims und Marianne Rosenbergs abscheuliches "Für immer und dich", bei dem sie wie eine "Superstar"-Kandidatin jeden Schlenker zusätzlich verschlenkert, was besonders bei der zeile "egal, wo du heut pennsT" zu überraschenden Ergebnissen führt. Nena, Joachim Witt, Wir sind Helden, Paula, Fehlfarben und andere nehmen Scherben- und Solo-Stücke, beweisen zum Großteil die wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis, dass Reisers Texte in den Mündern anderer Leute genau so beschränkt klingen wie ihre Eigenkompositionen. Dass Frank Spilker von den Sternen "Wenn die Nacht am tiefsten ist" gut steht, verwundert weniger als die trockene, gelungene "Alles Lüge"_Version von ausgerechnet VIVA-Schreck Tobi Schlegl.

Reisers Stimme hört man nur am Anfang bei "Herzverloren", einem längst auf Single veröffentlichten Soul-Uplifter mit Geigen und E-Piano, sicher nicht essenziell. Kleiner Tipp für Fans der Söhne Mannheims: Das Album lohnt sich trotzdem!




L.O.S. im November 2003

Ausgabe 11/03, Seite 30

www.los-magazin.de

Autor: nicht benannt

Rio Reiser Familienalbum

Eine Hommage an Deutschlands wahren Superstar

Mit zeitlosen Songs, deren kompositorische und lyrische Kraft von jeder jungen Generation aufgesogen wird, schrieb Rio Reiser Musikgeschichte

Für eine Hommage an diesen charismatischen Ausnahmekünstler ist es mehr als höchste Zeit. Dazu versammelte der renommierte Musikproduzent Frank Plasa deutschpsrachige Stars verschiedenster Genres, die in ihrem Stil die berühmtesten Reiser-Hits interpretieren. Herausgekommen ist das überragende "Rio Reiser Familienalbum". Der erlesene Kreis der beteiligten Künstler kann sich mehr als sehen lassen: Zur "Familie" zählen Söhne Mannheims mit Xavier Naidoo ("Mein Name ist Mensch"), Ferris MC ("König von Deutschland"), Marianne Rosenberg ("Für immer und dich"), Nena ("Schritt für Schritt ins Paradies"), Fettes Brot ("Ich bin müde"), Joachim Witt ("Wir sind wir jetzt"), Wir sind Helden ("Halt dich an deiner Liebe fest"), Die Sterne "Wenn die Nacht am tiefsten ist"), Fehlfarben ("Nicht noch mal") und viele Andere. Das das "Rio Reiser Familienalbum" bietet weit mehr als brillante Cover-Versionen namhafter Interpreten: Hier wird große Musik aus der Vergangenheit in die Gegenwart transportiert und für die Zukunft bewahrt. Bewahrt sie euch auch!




Kulturnews im November 2003

Ausgabe 11/03, S. 17

Ressort: CD des Monats

Autorenkürzel: mw (Matthias Wagner)

Bewertung: 5/6

Diverse

Rio Reiser Familienalbum - eine Hommage

Edel

1996 starb Rio Reiser an AIDS. Bis dahin war er vieles gewesen, meistens gleichzeitig: schwuler Linker, Hausbesetzer, Revolutionär und Romantiker. Und er war - mit Verlaub, Grönemeyer - der beste Rock- und Pop-Poet, den wir je hatten. Unter der warmherzigen Ägide des Hamburger Produzenten und Rio-Fans Frank Plasa spielten nun deutsche Künstler die Reiser-Hommage "Familienalbum" ein. Nena versucht es noch mal die Strecke abzugehen, die auch Rio nie zu Ende ging: "Schritt für Schritt ins Paradies"; Xavier Naidoos Söhne Mannheims soulrocken "Mein Name ist Mensch", das monströse Unikum Ferris MC rappt (mit aktualisiertem Text) den ironischen Zornestraum "König von Deutschland" - direkt vor Marianne Rosenbergs zärtlichem Song-Mobile "Für immer und dich". Seltsam dagegen Joachim Witts DAF-artige Stechschrittfassung von "Wo sind wir jetzt". "Alles Lüge!" hätte Rio ihn angefratzt, aber das rotzt hier die Familie Schlegl. Am schönsten vielleicht der görenhafte LoFi-Pop mir dem sich Wir sind Helden "Halt dich an deiner Liebe fest" hingeben. Tja, wer schreibt heute noch solche Songs auf deutsch? Nie-nie-niemand. Mit Verlaub, Grönemeyer.




Piranha im November 2003

Ausgabe 11, Seite 24

Ressort: Music

Autorenkürzel: dk

Rio Reiser

Andere Lieder singen

Früher, als er noch Ralph Möbius hieß, da liebte Rio Reiser Karl May und

Süßigkeiten. Einige Jahrzehnte später wurde Karl May von Karl Marx ersetzt und die Süßigkeiten wichen den Drogen. Es heißt, die besten sterben jung. Bei Rio Reiser trifft diese Plattitüde zu.


Im Alter von nur 46 Jahren verstirbt der poetischste Liedermacher Deutschlands 1996 im nordfriesischen Fresenhagen. Nach 26 Jahren wilder und aufregender Karriere hinterlässt er einen Kulturschatz, von dem Musikdeutschland noch lange zehren kann und wird. Die Kompromisslosigkeit, mit der Reiser seine Projekte vorantrieb, seine Anliegen vortrug und sich Raum verschaffte, sucht bis heute ihresgleichen. Kompromisslose Rockmusik, lyrische Ausbrüche und subtile Poesie im APO-Sog, während Hausbesetzerdramen und Startbahn West-Demos. Rio Reiser als musikalisches Ablassventil einer Generation voller Wut, Fragen und Unsicherheit. Doch die Ton Steine Scherben, deren Frontmann und Lenker er in den Siebziger Jahren war, vermochten nicht über den Status der anarchischen Systemverweigerer hinauszukommen.

Rio Reiser hingegen war mehr, war volksnaher Volkssänger, ohne volkstümlich zu wirken, nahm ein bisschen Gitarre, Beat, Shanties und Bob Dylan und entwickelte sich so zur Ikone der progressiven deutschen Musik. Zerbrechlich und labil, aber immer mit Signalwirkung und schier unfassbarer Leidenschaft. Nachahmer gab es und gibt es bis heute keine, zu groß ist Reisers künstlerisches Vermächtnis. Doch der Inspirationsquell Rio Reiser ist noch lange nicht versiegt. Echt zum Beispiel schwelgten bei ihrer Interpretation des Junimonds erfolgreich und chartkompatibel in Melancholie, und der Begriff Rio Reiser wurde der Volksjugend wieder ein Begriff.

Sieben Jahre sind seit seinem von der Öffentlichkeit beinahe unbemerkten Ableben vergangen. In diesen sieben Jahren erlebte die neue deutsche Musik einen unerwartet starken Boom. Ein Boom, an dem Rio Reiser nicht gänzlich unbeteiligt war. Auf "Familienalbum" erinnern sich nun Künstler wie Wir sind Helden, Paula, Marianne Rosenberg, Nena, Die Ster-

ne, Fehlfarben und viele mehr an ihren Rio Reiser und zollen mit ihren Neu-

interpretationen Tribut an einen ganz Großen der deutschen Rockgeschichte.

Auch Björn Beton von Fettes Brot, die "Ich bin müde" einen rumpelnden und faszinierenden Beat verpassten, erinnert sich. "Mir ist erst einige Zeit nach seinem Tod aufgefallen, was für ein großer Verlust das für uns alle war. Seit er weg ist, fehlt uns in Deutschland etwas. Er schaffte es, von Politik zu singen und dennoch immens viel Leidenschaft reinzubringen. Er

war authentisch und durfte damals zu meinen Jugendzeiten in keinem alternativen Partykellerfehlen".

Von den politisch ambitionierten Songs Reisers à la "Rauch Haus Song" oder "Keine Macht für niemand" ist auf "Familienalbum" allerdings nicht viel zu finden. Die Söhne Mannheims hauchen "Herzverloren" Soul ein, Joachim Witt kreiert ein eigenwilliges Klangkorsett für "Wo sind wir jetzt" und lediglich die Familie Schlegl singt bei "Alles Lüge" gegen das System. "Das Familienalbum muss nicht so politisch sein wie Reiser es damals war", erklärt Björn Beton. "Es ist auch nicht die Zeit, solche Songs zu singen. Ich glaube, wir müssen neue Songs singen. Sie müssen politisch sein, aber anders aufgearbeitet werden. In jedem Fall müssen sie bei Familienalbum dem Original ebenbürtig sein. Vielleicht hat sich deshalb niemand getraut".

Der Rio Reiser-Tribute-Sampler "Famlllenalbum" ist jetzt erhältlich.




WOM Journal im November 2003

Nummer 231, Seite 46

Autor: Mark Behrendt

Various Artists

"Rio Reiser Familenalbum - eine Hommage"

Vorweg: Das letzte, was die Menschheit braucht sind Nena und Marianne Rosenberg, wenn sie Lieder von Rio Reiser (1950-1996) krähen. Joachim Witts elektrifizierte Version von "Wo sind wir jetzT" ist auch so ein Härtefall, und Marlons Junimond" fehlt vorsichtshalber auf der Vorab-CD. Doch der Rest ist wunderbar: Paula elektro-plinkern sich durch "Mitten in der Nacht", Fettes Brot stampfen hitverdächtig "Ich bin müde" und Xavier Naidoo und seine Söhne Mannheims bringen "Mensch" als dramatischen Schlepp-Ragga. Und wenn Judith Holofernes von Wir sind Helden "Halt dich an meiner Liebe fest" säuselfaucht, dann lässt das jedes Nackenhaar einzend flimmern. Höhepunkt ist aber Reiser selbst, mit dem posthum von dem Hamburger Produzenten Franz Plasa fertig gestellten Beatschlager "Herzverloren". "Ich habe mein Herz verloren... aber vielleicht schenkst du mir deins?" singt Reiser und man sieht förmlich seinen dackeltreuen Augenaufschlag. Solche Lyrik behrrschte im deutschen Sprachraum kaum jemand so gut wie der einstige Ton, Steine, Scherben-Sänger. Und so darf Reiser mit einem bislang ungehörten Song sein eigenes Tribut-Album eröffnen. Und den Höhepunkt gleich vornean setzen. Das ist ein später - nichtsdestotrotz sehr trauriger - Triumph.



Natürlich heißt das Wir sind Helden-Cover "Halt dich an DEINER Liebe fest", ist also ein Tippfehler.




Intro im November 2003

Ausgabe 111, Seite 78

Ressor: Unten

Autor: nicht benannt

Diverse "Familienalbum"

(Safety/Edel) - Bei aller Liebe zu Rio Reiser muss aufgepasst werden, dass er (und Ton Steine Scherben) nicht zu einer bloßen Radical-Chic-Oberfläche verkommen. Also Che-Guevara-Bild-like. Einige Coverversionen hier wirken sehr konventionell, und man darf auch nicht vergessen, dass es wahrlich nicht die erste Tribut-Platte zum Thema ist. Diesmal erweisen u.a. Die Söhne Mannheims, Marianne Rosenberg, Nena, Tobi Schlegl, Wir Sind Helden, Die Sterne die Ehre. Eine Single-Auskopplung gibt es wohl zu der Fettes-Brot-Version von "Ich Bin Müde". Fazit: gute Interpretationen neben auch ein paar Standard-Songs.




Musikexpress im November 2003

Autor: Albert Koch

Diverse

Rio Heiser Familienalbum Eine Hommage

Safety Records/Edel

Ein Tributalbum für Rio Reiser. Und auch Wir sind Helden müssten nur mitmachen gewollt haben.

"Bitte behandeln Sie diese Zusendung nicht wie eine beliebige Postwurfsendung oder typische Medienbemusterung", fleht das Anschreiben zum RIO REISER FAMILIENALBUM. Keine Angst, keine Angst, Wo kämen wir denn da hin? Wir behandeln diese Zusendung einfach wie ein Compilation - Album, das wir besprechen wollen. 13 aktuelle und betagtere deutsche Musiker und Bands teils offensichtlicherer, teils überraschenderer Wahl - verbeugen sich auf Initiative des Produzenten Franz Plasa vor dem im August 1996 verstorbenen Rio Reiser mit Interpretationen seiner Songs. Ist es pietätlos, festzustellen, dass manche Künstler erst sterben müssen, bevor sich der Wirbel um ihr Werk so richtig entfacht? Zu seinen Lebzeiten wurden Rio Reisers Verdienste um die deutschsprachige Musik jedenfalls weitaus weniger gewürdigt als nach seinem Ableben. Rio war Anarchist, Rebell, Zeit- und Geselschaftskritiker, aber auch großer Romantiker. In den Jahren nach Ton Steine Scherben schloss er als Solist seinen Frieden mit dem musikalischen Mainstream. Die Interpretationen auf FAMILIENALBUM sind mehrheitlich behut- und einfühlsam geraten. Marianne Rosenberg etwa mit ihrer anrührenden Version von "Für immer und dich". Wir sind Helden mit der Gänsehaut-Fassung von "Halt dich an deiner Liebe fest", in der Judith Holofernes so schön berlinert wie selten zuvor. Paula mit einer niedlichen Interpretation von "Mitten in der Nacht" oder Die Sterne mit einer shoegazing Version von "Wenn die Nacht am tiefsten". Höhepunkte gibt es viele, aber auch Zeugs, das man am liebsten gar nicht hören möchte (Ferris MCs "König von Deutschland", Nenas "Schritt für Schritt im Paradies", Joachim Witts "Wo sind wir jetzt"). Das meiste auf dem FAMILIENALBUM ist schön und richtig und gut. Aber auch mal wieder die Originale hören, gell?

VÖ: 27.10. **** (gut)

[Höchstbewertung ****** (exzellent)]

www.rioriser.de




Uncle Sallys im Dezember 2003

Ausgabe 92, S. 31

Autor: Torsten Groß

V/A - Rio Reiser Familienalbum - Eine Hommage

(Edel)

Rio Reiser war unbestritten einer der für die Entwicklung eigenständiger, deutschsprachiger Musik wichtigsten Impulsgeber und ein großer Texter. Schade, dass er tot ist und sich nicht mehr gegen dieses Machwerk wehren kann. Denn was die notorische, blütenweiße Nena und andere wohl unvermeidliche Totengräber des Deutsch-Rock hier in Reisers Namen anzetteln, trägt den Namen Hommage zu Unrecht. Es ist eine unverschämte Frechheit. Einzig die Beiträge der Söhne Mannheims und vom Freundeskreis lassen ein wenig Hoffnung aufkeimen. Aufgepeppt wurde das Ganze durch den bislang unveröffentlichten Reiser-Song "Herverloren", ironischerweise der beste Track des Albums. Dabei wäre hier wirklich die Chance gewesen, Reiser ein würdiges Gedenken zu bereiten.




UniSpiegel im Dezember 2003

Heft 6, Seite 39

Ressort: Vergnügen / Hören

Autorin: nicht genannt

Weihnachten / Hommage an Rio Reiser

Familienalbum

Weihnachtszeit, Best-of- und Tribute-Alben-Zeit. Jahr für Jahr überschwemmen ungezählte Hommagen in CD-Forn den Markt: Nicht immer erreicht die Ehrung das Niveau des Geehrten. Das gilt auch für "Rio Reiser: Familienalbum", eine tiefe Verneigung vor dem 1996 verstorbenen Ex-Ton-Steine-Scherben-Sänger. Auf der einen Seite überzeugen Fehlfarben mit einem rotzigen "Nicht noch mal", Fettes Brot mit einem erfrischenden "Ich bin müde" und eigentlich unerwartet auch Nenas "Schritt für Schritt ins Paradies". Auf der anderen Seite können die Machwerke von Proll-Rapper Ferris MC ("König von Deutschland") oder den Söhnen Mannheims ("Mein Name ist Mensch") getrost als Leichenfledderei verhöhnt werden. Dennoch ein Album für fast jede Familie.





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