Politische Lieder hin oder her
Ein Gespräch mit Nikel Pallat über Ton Steine Scherben,
junge Welt, 7. februar 2001
junge welt

Nikel Pallat, Mitglied bei Ton Steine Scherben von 1970 bis 1978 danach bei der legendären Deichtraum Theatercompany aus Nordfriesland. Später hat er ein Album mit Songs von Lucio Dalla in deutscher Sprache veröffentlicht (Nikels Spuk). Als Mitbegründer des ersten deutschen Indie-Labels "David Volksmund Produktion" hat er sich schon immer um den Vertrieb von Schallplatten gekümmert. Heute ist er bei dem Musikvertrieb Indigo  zuständig fürs Repertoire und die Beratung von jungen Labels. Ab und an gibt  er eine Gastrolle bei Auftritten von Neues Glas aus alten Scherben

Betrachtet man heute die Musik der späten sechziger und frühen siebziger Jahre, hat man den Eindruck, daß Musik damals wesentlich politischer gedacht, gemacht und gehört wurde. Stimmt das überhaupt?

Das muß man kulturhistorisch sehen. Die deutschsprachige Musik der fünfziger und sechziger Jahre war zum großen Teil Schlager gewesen. Zwischendrin gab es ein paar Besinnungslieder und nachdenklich machende Chansons, wenn zum Beispiel Marlene Dietrich "Where are all the flowers gone?" auf deutsch sang, aber inhaltlich nicht mehr als Liebe, Schmerz und Heiterkeit. Der Gedanke, daß Musik auch andere Themen haben könnte, kam erst Mitte der sechziger Jahre auf, als einige Leute anfingen, über Bob Dylan oder Peter, Paul and Mary und andere aus der Folksingerecke zu reflektieren. Das wurde deutlicher, als später in der Popmusik neue Begriffe auftauchten, die Beatles sangen von "Revolution", die Rolling Stones vom "Streetfighting Man". Ob das jetzt nur Beschreibungen waren oder der Ausdruck von Sozialkritik, um dieses wunderschöne Wort einmal zu gebrauchen, die dann vom jeweiligen Betrachter als "politische Aussagen" umdefiniert oder stilisiert wurden, das ist dann natürlich die nächste Frage. Für uns war von vornherein klar, daß es keine Vorbilder, keine Tradition der politischen Lyrik der letzten zwanzig Jahre gab. Man hatte zwar irgendwie Kenntnis von Brechts "Dreigroschenoper" und von Sozialdramen aller Art und Güte, aber die Technik, kulturelle Phänomene zu einem Song zusammenzupressen und auch noch mit Rock- oder Beatmusik zu komprimieren oder zu mischen, das war neu. Es war unsere Entscheidung: zu versuchen, unsere Lieder in einen irgendwie gearteten gesesellschaftlichen Kontext zu stellen und zusagen: wir wollen nicht einfach nur blödeln.

Erschien einem damals das Private nicht eminent politischer als heute? Das Hören lauter Musik, das Tragen von langen Haaren, das waren doch politische Gesten, und die wurden von den Eltern, Chefs und Lehrern auch so verstanden.

Auf jeden Fall war es viel einfacher, wegen solcher Äußerlichkeiten eine Konfrontation zu erzeugen. Das was uns und das, was unsere Eltern geprägt hatte, das war ein kulturelles Kontrastprogramm. Das war ein Generationskonflikt, den es heute in nur sehr viel minimierter Form gibt. Da ist kulturell sehr viel ausgeglichen worden. Von Großmutter bis Enkelkind gehen die Leute heute zu Tina Turner. Manche Eltern gehen sogar schon zur Love-Parade. 

Haben die Eltern von Ton Steine Scherben denn etwas mit deren Musik anfangen können?

Musikalisch überhaupt nicht. Meine Eltern zum Beispiel waren schon relativ alt. Die hatten mitbekommen, daß ich mich in der späten Pubertät mit Jazz beschäftigte. Als das dann in die Beatmusik überging, haben die das nicht mehr nachvollziehen können. Die haben mir das aber auch nicht verboten. Bei den anderen Bandmitgliedern wird das auch nicht viel anders gewesen sein.

Anfangs begriffen sich Ton Steine Scherben als Teil einer revolutionären Bewegung, die aber durchaus auch fraktioniert war. Hat man sich in Auseinandersetzungen begeben müssen, die vielleicht gar nicht so interessant waren?

Erstens war es interessant und zweitens waren Ton Steine Scherben auch kein homogenes Gebilde. Da gab es eine etwas unpolitischere und eine etwas politischere Fraktion, die in sich auch nicht immer einstimmig war. Insofern waren wir auch ein Spiegelbild dessen, was wir draußen vorfanden. Entscheidend war immer, wer uns zu welchen Veranstaltungen einlud. Da ging das Spektrum von der SDAJ bis zu irgendwelchen Anarchos und Hausbesetzern. Wir hatten dieses sehr chice Lied "Allein machen sie dich ein" mit dem Refrain "Und du weißt, das wird passieren, wenn wir uns organisieren". Obwohl das auf der Platte "Keine Macht für niemand" leicht ironisch rüberkommt, war es den Veranstaltern immer sehr wichtig, dieses Lied zum richtigen Zeitpunkt erklingen zu lassen, denn man wollte danach eine Ansprache halten oder den Klingelbeutel rumreichen oder weiß der Himmel was tun. Da fand eine Funktionalisierung der Gruppe statt. Wir selber wurden für die letzten Subkulturflipper gehalten. 

Haben euch diese Vereinnahmungversuche gestört?

Diese Instrumentalisierung war uns völlig klar. Das waren ja unsere Auftraggeber. Da wir unsere Tourneen selber organisierten, ließen wir uns von Berlin aus gerne reichlich einladen. 

Es wird kolportiert, daß Ton Steine Scherben immer eingeladen worden sind, wenn es galt, ein Haus zu besetzen - ohne daß sie dafür irgendetwas bekommen hätten, noch nicht mal Spritgeld.

Im Prinzip ist das richtig. Wir wurden von Hausbesetzern aus dem ganzen Bundesgebiet, auch gerade in Kleinstädte eingeladen. Manchmal ließ sich ein Auftritt noch mit einem Konzert in einer anderen Stadt verbinden, dann war das für uns nicht ganz so teuer.Gagentechnisch waren wir wirklich am alleruntersten Level, wobei damals die Gagen viel niedriger waren. Da mußten wir oft genug noch sammeln gehen. Von den Konzerten konnte man beim besten Willen nicht leben, die Gruppe finanzierte sich auch schon damals überwiegend aus den Plattenverkäufen.

Was fandet ihr wichtiger, die Musik oder die Texte?

Wir haben das nicht so getrennt, es ging um Songs. Die Musik ist meist nur eine Arrangementfrage. Wir haben die Songs live meistens anders als auf Platte gespielt. Da ist man viel freier mit umgegangen als heute. Wenn uns dieses oder jenes Riff nicht mehr gefiel oder wir den Song weicher oder kräftiger haben wollten, dann haben wir ihn umarrangiert. Von der Herangehensweise war das meist so, daß zumindest bruchstückhaft der Text vorlag und die Musik drumherum gebastelt wurde. 

Bei der Band bist du ursprünglich als Manager eingestiegen?

Ich bin nach dem zweiten oder dritten Konzert der Band in Berlin zu ihnen hingegangen, um zwei oder drei Songs, die ich geschrieben hatte, vorstellen. Die waren zwar nicht das allerschärfste, aber immerhin kam man ins Gespräch und merkte, daß man die Dinge ähnlich sieht. Es stellte sich heraus, daß der organisatorische Bereich sehr defizitär war. Es kam die Frage auf, ob ich mich nicht drum kümmern wollte. Management wäre zu hochgegriffen. Ich habe dann den Vertrieb der vorliegenden Single "Macht kaputt, was euch kaputt macht" betreut, Konzerte aufgetan und den ziemlich großartigen und berühmten Auftritt in der TU-Mensa, heute würde man sagen, vorpromotet, das heißt die Band ins Radio und in die Zeitung gebracht. Das ging von "SF-Beat" bis zur BZ. Um einmal aus dem Nähkästchen zu plaudern: Wir riefen bei der BZ an und die wollten noch ein Foto und schickten uns einen jungen Fotografen, der dann dieses Foto schoß, das noch heute auf der "Warum geht es mir so dreckig?" abgebildet ist, wo wir mit der Gitarre unterm Arm die Naunynstraße hochkommen. In der BZ stand zwar unterm Foto der Name Jim Rakete, doch mit Copyrights nahm man das in der Szene damals nicht so genau.

Die Single "Macht kaputt, was euch kaputt macht" war die erste Indiesingle Deutschlands - mit welcher Auflage?

Erstauflage war dreitausend und es sind dann nochmal dreitausend nachgepreßt worden. Es kam dann irgendwann der Longplayer "Warum geht es mir so dreckig?" raus und dadurch war die Single nicht mehr so relevant. Die Band hat das Lied dann ab Mitte der Siebziger auch nicht mehr gespielt. Rio wollte es nicht mehr spielen. Das hatte weniger politische Gründe als persönliche. Er wollte kein zynisches Verhältnis zu den Songs, von denen er die meisten geschrieben hatte, entwickeln. Live mußte er sie ausleben, ihre Spannung erzeugen. Das kann man nicht einfach auf Knopfdruck erledigen. Er wollte die Publikumserwartung, beim Konzert dieses Lied zu spielen, nicht mehr erfüllen, weil es sehr schwierig ist, immer die Energie und Stimmung aufzubauen, die es braucht um "Macht kaputt, was euch kaputt macht" glaubhaft zu singen. Das muß sich hochschaukeln, das geht nicht so einfach. Rio hatte einen Haß auf die Option des Publikums, nur noch eine Musicbox zu sein, von der man sich Lieder einfordern konnte. "Keine Macht für niemand" war eher möglich, aber auch nicht immer. "Der Kampf geht weiter" flog dann irgendwann auch aus dem Programm. Andere Songs aus der allerersten Phase, bei denen die Parolenhaftigkeit reduzierter war, die mehr Story hatten oder in denen nicht nur die pure Aggression regierte, waren bei normalen Konzerten durchaus reproduzierbar. Wie "Ich will nicht werden, was mein Alter ist". Das war ja das Standardding, das kann man ja auch sehr nonchalant und relaxt singen. Habt ihr euer Publikum als Genossen, die ähnliches wollen oder eher als Konsumenten eurer Hits und damit als Belästigung empfunden? Das war völlig gemischt. Es gab die Hardcorefans der ersten Stunde; es gab die Leute, die uns politisch zustimmten; es gab die Menschen, die sehr froh waren, daß wir zu ihnen aufs Land kamen und es gab gerade auf den Festivals sehr viel Leute, die völlig geflippt waren, was da für eine faszinierende Band auftrat. Wir waren für damalige Verhältnisse sehr rotzig und frech - und dann noch mit der Berliner Großmäuligkeit obendrauf! Rio war sehr schlagfertig. Schlotterer, unser Flötist und politischer Chefideologe, konnte provozieren ohne Ende.

Du selbst hast als Gast bei einer WDR-Talkshow den Studiotisch gespalten.

Wir hatten lange in der Gruppe darüber geredet, was man machen könnte, wenn wir das Gefühl bekommen, von den Leuten vereinnahmt zu werden, von denen wir uns abgrenzen wollten. Ich bin als Vertreter von Ton Steine Scherben zu dieser Sendung gefahren, bei der es um Pop und Politik ging. Unter anderem saß da Rolf-Ulrich Kaiser, mit dessen damaligem schmockigen Zeug wir nichts zu tun haben wollten. Das war eine Livediskussion über drei Stunden, bei der wir die "So-Nicht"-Option haben wollten nach dem Motto: lieber ein Ende im Skandal anstatt allgemeine Umarmung und glückliches Geweine. Es kam dann auch, wie's kommen mußte. Ich habe das eingeschmuggelte Beil gezückt und versucht, den Studiotisch zu zerhacken. Das ging aber nicht richtig, der Tisch war zu komisch geleimt. Ich hab' ein paar gute Kerben reingehauen.

Eine solche Verweigerungshaltung gibt es kaum noch. Zum Beispiel scheint eine Band wie Chumbawamba das allgemeine Unterhaltungsspiel mitzuspielen.

Bei denen ist das doppeldeutiger, nicht mehr so klar getrennt wie bei uns. Heute hast du in der Kulturindustrie andere Möglichkeiten als früher. Da kannst du als rabiate Band mit Gleichgesinnten eine Plattenfirma machen und bist nicht mehr vor die Alternative gestellt, entweder bei einer großen Plattenfirma unterzukriechen oder überhaupt nicht vermarktet zu werden. Die Fronten sind nicht mehr so klar - hier wir und dort die. Vielleicht haben wir uns das auch schwarz-weißer gemalt, als es nötig war. Auf jeden Fall war es eine der wichtigsten Forderungen der Bewegung der sechziger und siebziger Jahre, die Dinge selber zu bestimmen und nicht auf andere Leute angewiesen zu sein. Mit "David Volksmund Produktion" wollten wir beweisen, daß man selber eine Plattenfirma machen kann, die sogar funktioniert. Das haben wir auch geschafft.

Was für ein Gefühl ist es, heute Ton Steine Scherben immer noch bei einer Demo zu hören? Oder gehst du auf keine Demos mehr?

Doch, durchaus. Natürlich ist es so, daß es weiterhin Demos geben muß. Daß die Sachen vom Lautsprecherwagen sich teilweise nicht über Ton Steine Scherben hinaus weiterentwickelt haben, ist ein Armutszeugnis für die Demokultur. Wir haben uns als Medium verstanden. Wir hatten die medialen Möglichkeiten, eine Stimme, eine Plattenfirma, Instrumente, Verstärker. Das, was andere Leute auf ähnliche Art wie wir fühlten, wollten wir ausdrücken. Politische Lieder hin oder her, die Frage ist, wie man sie medial umsetzt?  Bei autonomen Demos gibt es nun öfter Drum & Bass oder Alec Empire. Was Alec Empire in Interviews so verlautbaren läßt, klingt ja sehr verbalradikal. Ich würde den gerne mal persönlich kennenlernen, um zu sehen, ob das nur Sprücheklopferei ist oder ob da mehr dahinter steckt. Seine Attitüde ist beachtlich.

Wie kam der Wechsel von den parolenförmigen politischen ersten beiden Scherben-Platten zu der eher gefühligen, musikalisch epischen dritten Platte "Wenn die Nacht am tiefsten ist" zustande? Geht das einher mit dem Aufkommen der Bioläden, Töpfer- oder Selbsterfahrungsgruppen Mitte der Siebziger?

Das war eine Entwicklung über fünf Jahre. Auf der ersten Platte "Warum geht es mir so dreckig?" ist Material von 1968, 69, 70. Damals war Rio 18 oder 19, und bei "Wenn die Nacht am tiefsten ist" war er Mitte 20. Da liegen Hunderte Konzerte dazwischen, sehr viel persönliche Erfahrungen und Relativierungen dessen, was man erlebt hat. Man kann einerseits seine eigenen Parolen minimal variieren oder eben weiter denken. 1978 waren Ton Steine Scherben praktisch aufgelöst, auch ich habe die Gruppe verlassen, bevor sich einige aus der Gruppe mit neuen Leuten 1980 wieder zur schwer zugänglichen, ultrakomplexen"Schwarzen Scheibe" zusammengefunden haben, um es unter anderen Gesichtspunkten neu zu versuchen. Da war man in den Achtzigern gelandet. Mit der letzten Platte "Scherben" hat man dann noch einmal eine richtige Rockplatte in einem modernen Aufnahmestudio gemacht. 

Da sind mit "Wo sind wir jetzt" oder "Hau ab" immer noch Lieder drauf, die man politisch oppositionell verstehen kann.

Ja, klar. Gibt es auch bei den Soloplatten von Rio Reiser. Er war ja kein unpolitischer Mensch geworden. Seine Lieder waren nur nicht mehr so brachial, eindeutig und direkt. Wie haben Ton Steine Scherben auf Punk reagiert? Fühlte man sich bestätigt? Als ich die ersten Punkplatten hörte, dachte ich, das hört sich ja so an wie wir auf "Warum geht es mir so dreckig?" In Deutschland sind Slime oder Hans-A-Plast ja auch wirklich mit den Scherben als Muttermilch großgeworden. Die haben sich alle in irgendeiner Weise auf uns bezogen. Das kann man Bestätigung nennen. Wir dachten, dann war ja nicht alles völlig idiotisch.

In der Linken gibt es traditionell zwei Fraktionen: die Spaßfraktion und die bierernste Fraktion, die sagt, man solle mehr Bücher lesen.

Wir waren auf jeden Fall Spaßfraktion. Ich bin gegen eine rein kognitive, nur über den Kopf gehende Haltung. Sicher lassen sich viele Erkenntnisse aus Büchern gewinnen, aber in Fragen der Transformation bin ich ganz klar für sinnliche Erfahrung und Vermittlung. 

Das Gespräch führte Christof Meueler