Protestsongs.de  
Doppel-CD [43 Songs] + 28 seitiges Booklet - im Vertrieb von Alive - LC 10748 Lieblingslied Records - Veröffentlichung am 25.10.04  

Die Ärzte und Nicole, Jan Delay und Ernst Busch, Xavier Naidoo und Konstantin Wecker, Helge Schneider und Gundermann, Udo Lindenberg und Jospeh Beuys auf einer Compilation - eine Kreuzfahrt durch die Geschichte des deutschen Protestsongs!

Protestsongs.de präsentiert eine Auswahl deutsch-deutscher Protestsongs der letzten 60 Jahre. Auf CD 1 finden sich aktuelle Titel aus den Jahren 1989 bis 2004 - von Hip Hop, über Punkrock bis Pop und schöne Kuriositäten. CD 2 ist eine History Bonus CD. Diese präsentiert unverzichtbare Klassiker aus den Jahren vor der Wende - von den Hausbesetzern Ton Steine Scherben, den Liedermachern über die Neue Deutsche Welle bis zum heimlichen Protest in der DDR wird hier mit einem ausführlichen 28 Seiten starken und reich bebilderten Booklet in deutsch und englisch die Geschichte des Protestsongs in Deutschland erzählt.

CD 1: Hier und Jetzt

Die Ärzte, Die Goldenen Zitronen, Tocotronic, Die Sterne, Jan Delay, Brothers Keepers, Afrob, Xavier Naidoo, Advanced Chemistry, Neoangin, King Rocko Schamoni, Peter Licht, Helge Schneider, Lassie Singers, Funny van Dannen, Gundermann, Linkssentimentale Transportarbeiterfreunde, Feeling B, Herbst in Peking, Sandow + Bonus Titel

CD 2: Bleibende Werte

Andreas Dorau, Söllner, Wolf Maahn, Bettina Wegner, BAP, Gänsehaut, Nena, Geier Sturzflug, Nicole, Joseph Beuys, Ina Deter, Slime, Konstantin Wecker, Udo Lindenberg, Otto, Ton Steine Scherben, Hanns-Dieter Hüsch, Degenhardt, Hazy Osterwald Sextet, Wolfgang Neuss, Ernst Busch, Lucie Mannheim

Politik und Pop

Mehr Pop in die Politik und mehr Politik in den Pop!? Das war auf jeden Fall nicht die Intention, um diese CD zu machen: sondern einfach der Wunsch, Lieder zusammen zu tragen, um die Spuren, Transformationen und den Nachhall von Politik im Pop zu dokumentieren.

Nach vielen Anfangsschwierigkeiten galt es das, was man gefunden und den Plattenfirmen abgerungen hatte, zu ordnen und zu bewerten. Geht man also davon aus, dass ein Protestsong gegen politische Verhältnisse welcher Art auch immer protestiert, beginnt die Geschichte des Protestsongs im 20. Jahrhundert in Deutschland eigentlich erst in den späten Sechziger- und den frühen Siebzigerjahren. Die Suche nach Protestsongs vor dieser Zeit kann nur auf wenig Erfolg stoßen. Doch eine interessante, fast in Vergessenheit geratene wichtige Außnahme gab es: Die Anti-Hitler Version von "Lili Marleen" (1944), die von der englischen BBC in Auftrag gegeben wurde und mit der nach England emigrierten deutschen Sängerin und Schauspielerin Lucie Mannheim aufgenommen wurde. Doch nach Kriegsende findet sich kaum bemerkenswertes. So findet sich ein Song von Ernst Busch, „Susanna“ (1952), der eigentlich mehr als ein politisches Lied zu Propagandazwecken für die entstehende DDR zu verstehen ist. Trotzdem demonstriert er mit seiner Polemik gegen Rüstung und Krieg, eindrücklich: Während im Westen aufgerüstet wurde und Forderungen nach Entnazifizierung schnell von denen nach wirtschaftlichem Aufschwung verdrängt wurden, wurden in der Sowjetischen Besatzungszone Betriebe von „Kriegs- und Naziverbrechern“ enteignet. Warum sollte ein Protestsong gegen Rüstung und Krieg inhaltlich wertloser sein, nur weil er im Sinne eines Staates geschrieben wurde? Waren die Protestsongs im Westen nicht auch auf eine Art abhängig - vom Verkauf der Platten beispielsweise, also der gerade angesagten politischen Stimmung im Land?

Noch vor dem Boom des Protestsongs in den Siebzigerjahren finden sich in den Fünfzigerjahren außerdem zwei Lieder, die gegen die Bewältigung der Kriegsfolgen protestierten, dagegen, dass diese nicht durch eine breite Auseinandersetzung mit den Kriegsursachen begleitet worden waren - gegen eine neue deutsche Gemütlichkeit und Selbstzufriedenheit. Das „Lied vom Wirtschaftswunder“ (1956) von Wolfgang Neuss, das scharf die immer dicker werdenden „deutschen Bäuche“ angreift und die unbestraften Nazis, die jetzt schon „ihre Memoiren schreiben“, ist eher der Tradition des politischen Kabaretts zuzuordnen als der des klassischen Protestsongs. Und bei dem Lied „Konjunktur Cha Cha“ (1960) des Hazy Osterwald Sextets, das sehr viel harmloser das Verschwinden der inneren Werte beklagt, „die man gratis kriegt, wenn man Straßenkreuzer fährt“, handelt es sich wohl vielmehr um eine außergewöhnlich politische Variante des ansonsten eher harmlosen Nachkriegsschlagers.

Es sind wohl nur die Liedermacher der Siebzigerjahre , die klassische Protestsongs hervorbrachten - Lieder wie Franz Josef Degenhardts „Irgendwas mach ich mal“ (1968) oder Hanns-Dieter Hüschs „Marsch der Minderheit“ (1970), aber natürlich auch Epigonen wie Konstantin Wecker mit seinem „Genug ist nicht genug (Es herrscht wieder) Frieden im Land“ (1977), der Protestsongs leicht und salonfähig gemacht hat oder Söllner, der mit seinem „Hey Staat“ (1989), dem klassischen Protestsong eigentlich nur einen scharfen, bayrischen Ton hinzufügt. Diese typischen Liedermacher mit ihren mustergültigen Protestsongs, zu denen auch auf dieser CD nicht vertretene wie Dieter Süverkrüp, Hannes Wader und zahlreiche andere gehören, beriefen und berufen sich vor allem auf den frühen Hillybilly-Folk in den USA, erzählend-balladenhafte und von der akustischen Gitarre begleitete Sololieder. Sie orientierten sich am singenden Wander- und Saisonarbeiter Woody Guthrie und an Pete Seeger in den Dreißiger- und Vierzigerjahren, an Bob Dylan, Joan Baez , Joni Mitchell in den Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahren, aber auch auf engangierte französische Chansons wie die von Juliette Greco oder von Georges Brassens, an Liedern der Arbeiterbewegung von Hanns Eisler, Erich Weinert, Ernst Toller, Bertolt Brecht und Kurt Weill, Kampfliedern der Kommunistischen Partei, Liedern der russischen Revolution, an Texten überlieferter Gassenhauer und Trinklieder und vereinzelt sogar an Lyrik der mittelalterlichen Troubadours oder Minnesänger.

Franz Joseph Degenhardts und Hanns-Dieter Hüschs Songs sind die reinsten Protestsongs, mit denen man diese CD hätte eröffenen können, wäre man an dieses Thema dogmatischer herangegangen. Sie rufen zu Solidarität unter den Arbeitern auf, zu einer gemeinsam zu erkämpfenden besseren Welt. Ihre Songs können als Ausdruck der neu geborenen Protestbewegungen in der Bundesrepublik gelten. Ausgelöst durch den Vietnamkrieg und die Notstandsgesetzgebung signalisierten Mitte der Sechzigerjahre die ersten Studentenproteste den Beginn einer gesellschaftlichen Krise (erste Demonstrationen im Umfeld des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds, Sit-Ins, Forderung nach studentischer Mitbestimmung an den Hochschulen, Entstehung der Außerparlamentarischen Opposition (APO), Gründung der Kommune 1 als Beispiel für alternative Lebensentwürfe), Alles, was nach den Liedermachern kam, die sich offen mit der Studentenbewegung solidarisierten, könnte man als verwässerte Protestsongs betrachten, die zu sehr mit dem Populären kokettieren.

Ab 1970 zerfällt die Studentenbewegung, auch, weil die sozialliberale Koalition mit vielen gesellschaftlichen Reformen dem Protest den Wind aus den Segeln nimmt. Mit dem Niedergang der Revolte entscheiden sich viele für alternative Lebensformen - die Sponti- und Hausbesetzerszene findet viele unbekannt gebliebene Protagonisten wie Dave Corner, der auf dieser CD mit seinem Song „Hausdurchsuchung“ leider nicht vertreten ist, aber auch ein in ihrer Allgemeingültigkeit bis heute als Vorbild für die deutschsprachige Popmusik geltendes Sprachrohr - die Band Ton Steine Scherben, die mit ihrem wichtigsten Song „Keine Macht für Niemand“ vertreten sind.

Die inhaltlichen Forderungen der antiautoritären Bewegung leben in sehr ausdifferenzierter Form in den Bürgerinitiativen fort, in der Umwelt- und Frauenbewegung, und schließlich in der entstehenden Partei der Grünen. Auch die Protestsongs verlieren an Allgemeinheit und Radikalität und kaprizieren sich auf einzelne Missstände. Die drei großen Themen in den Protestsongs der Siebziger- und Achtzigerjahren: da sind erstens die Auflehnung gegen die Aufrüstung und den Kalten Krieg zwischen Ost und West, Udo Lindenbergs „Wir wollen doch einfach nur zusammen sein“ (1973) über die unmögliche Liebesbeziehung zweier junger Menschen aus Ost und West, Nicoles vorsichtiger Schlager „Ein bißchen Frieden“ (1982), mit dem sie immerhin den Grand Prix Eurovision gewann, Nenas weltweit erfolgreicher Hit „99 Luftballons“ (1982), „Besuchen sie Europa“ (1983) von Geier Sturzflug, BAPs Song, „Deshalv Spiel mer he“ (1984), ein Lied, das ihnen kurz vor Antritt ihrer Tournee durch die DDR ein Auftrittsverbot bescherte. Zweitens wären da die Protestsongs gegen Umweltverschmutzung und Atomkraft: Joseph Beuys' „Sonne statt Reagan“ (1982), das er übrigens mit einigen Politikern der Grünen im deutschen Fernsehen aufgeführt hat, Wolf Maahns „Tschernobyl“, das er direkt nach dem Reaktorunglück im ukrainischen Tschernobyl im Jahr 1986 schrieb und mit der „Speerspitze“ der damaligen deutschen Rockszene (Alphaville, Herbert Grönemeyer, Anne Haigis, Klaus Lage und anderen) einspielte. Drittens wäre da der Protestsong gegen die Benachteiligung der Frau, ein Thema, dessen sich allerdings nur wenige Frauen annahmen, wahrscheinlich deshalb, weil es damals wie heute beschämend wenige Musikerinnen gab und gibt. Für diese CD fanden sich nur zwei Musikerinnen: Nina Hagen und Ina Deter: Aufgrund der damals großen polarisierenden Wirkung ihres Songs „Neuen Männer braucht das Land“ (1983) viel die Wahl auf Ina Deter.

Aus den Protestsongs, die sich mit Frieden, Umwelt und Gleichberechtigung befassen, stechen eindeutig das Lied „Duptscheck“ (1973) des Komikers Otto Waalkes und das Lied „Bullenschweine“ (1983) der Punkgruppe Slime und Andereas Doraus Song „Demokratie“ (1989) heraus. Während sich Otto als einer der ersten mit seiner blödelnden Art über die politische Ernsthaftigkeit der engagierten Linken lustig macht und einfach die Namen ihrer revolutionären Helden zu einem völlig sinnentleerten Kanon montiert, greifen Slime zum ersten Mal seit den Songs der Liedermacher nicht nur auf Einzelforderungen zurück, sondern wieder auf eine radikalere Verweigerungshaltung: ganz im Sinne von Punk wenden sie sich nicht gegen einen Teilbereich gesellschaftlicher Missstände, sondern gegen Gesellschaft allgemein und schimpfen generell auf alles, was ihnen auf die Schnelle einzufallen scheint: Gegen Faschismus, soziale Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung, Militär, Polizei, Identitätsverlust, Entfremdung und Automatisierung. Andreas Dorau, einer der ersten Protagonisten, der auf Punk reagierenden Neuen Deutschen Welle, protestiert nur noch gegen den heiligen Ernst seiner großen Brüder. Als wolle er die Langeweile der Achtzigerjahre und der Kohl-Ära auf den Punkt bringen, beschreibt er Demokratie ironisch als etwas, unter dem man sich wenig vorstellen kann und das den Einzelnen lähmt und hilflos macht.

Was sich als großes Problem bei der Auswahl der Songs für diese CD herausstellte, war der Anspruch, auch Protestsongs aus der DDR aufzunehmen. Anders als in der Bundesrepublik, wurden in der DDR die Protestsbewegungen kaum von Musikern begleitet. Die einzigen Protestsongs, die es vor den Achtzigern gab, waren politische Lieder wie das erwähnte von Ernst Busch und DDR Rock nach angloamerikanischen Vorbild. Diese sogenannte Beatmusik, wie sie seit den Fünfzigerjahren in der DDR populär war, war nur insofern rebellisch, als dass die DDR eine Zeitlang versuchte, diese „Monotonie des Yeah, Yeah, Yeah“, diesen „Dreck der aus dem Westen kommt“ (Walter Ulbricht im Jahre 1965) zu verbieten. Als der Versuch, diese Beatmusik zu unterbinden, scheiterte, wurde sie durch die „Freizeitkulturförderung“ der FDJ, der Freien Deutschen Jugend, vereinnahmt. Auf dieser CD ist deshalb kein Beatstück der subversiven Phase vertreten, weil sich keines mit einem deutschsprachigen Text finden ließ.

Der 17. Juni 1953, der offene Aufstand Hunderttausender gegen das SED-Regime, die Aufstände in Polen und Ungarn 1956, die Solidarisierung vieler Künstler mit der Demokratiebewegung in der Tschechoslowakei 1968: All diese Ereignisse finden keinen Niederschlag in der Musik der DDR. Erst nach der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann im Jahr 1967 und der darauf reagierenden Protestpetition, die von 13 namhaften Künstlern unterzeichnet wurde, erhielt Widerspruch Einzug in der Musik der DDR. Neben Wolf Biermann und Stefan Krawczyk, die auf dieser CD aus organisatorischen Gründen nicht vertreten sind, war es vor allem Bettina Wegner, die Inhalte der erstarkenden Bürgerbewegung in der DDR in den Achtzigerjahren in ihren Liedern aufnahm: die der kirchlichen Friedensbewegung, die z. B. den Zivildienst forderte, Abrüstung, Änderungen der Energie-, Umwelt-, und Bildungspolitik. Mit dem für diese CD ausgesuchten Lied „Von Deutschland nach Deutschland“ (1986) spiegelt Bettina Wegner: die DDR reagierte bis in die Achtzigerjahre hinein auf jegliche Proteste hart und versuchte die intellektuellen oppositionellen Kreise systematisch durch Verhaftungen und Ausweisungen auszubluten. Auch Bettina Wegner verließ die DDR und besingt in ihrem Lied ihre eigene Wurzellosigkeit.

In den Neunzigerjahren gibt es im Westen des Landes drei Sorten von Protestsongs: Die erste protestiert gegen den Habitus des Protestsongs selbst, gegen linke Jargons, Political Correctness, Ernsthaftigkeit, Schwarz-Weiß-Malerei - eine Polemik, wie sie Otto Waalkes bereits 1973 angerissen hat. Dazu gehören „CDU“ (1990) von King Rocko Schamoni, „Die Herrn Politiker“ (1991) von Helge Schneider, „Rebell“ (1998) von den Ärzten, „Ihr lieben 68er“ (2001) von Peter Licht und „Kapitalismus“ (2002) von Funny van Dannen. Politische Gegner oder gesellschaftliche Missstände scheint es für diese Songs schon deshalb nicht zu geben, weil man gar nicht wüsste, wie man diese kritisieren könnte, ohne sich dabei lächerlich zu machen. Die zweite Sorte Protestsongs, die auf dieser CD vertreten sind, umgeht die Schwierigkeit, indem sie nicht mehr gegen politische Gegner oder politische Missstände angeht, sondern gegen deren ganz spezifischen Auswirkungen auf das eigene Leben. Zu diesen Protestsongs gehören „Wo bleibt der Mensch“ (1996) von den Lassie Singers, „Risikobiographie“ (1996) von den Sternen und „Das Unglück muß zurückgeschlagen werden“ (1999) von Tocotronic. Und dann gibt es noch eine dritte Sorte, die politisches Engagement nie aufgegeben hat oder Repolitisierung entdeckt hat. Alle diese Lieder von „Das bißchen Totschlag“ (1994) von den Goldenen Zitronen über „Fremd im eigenen Land“ (1992) von Advanced Chemistry, bis hin zu „Alles Lüge“ (2001) von Afrob, „Mägde und Knechte“ (2002) von Xavier Naidoo und „Adriano“ (2001) von den Brothers Keepers haben ein gemeinsames großes Thema: die immer größer werdende Fremdenfeindlichkeit im Land.

Die einzige Ausnahme, der einzige Musiker, der mit einem Song auf dieser CD vertreten ist, der weder ein Protestsong gegen Protestsongs ist, noch ein Protestsong gegen persönliche Verstrickungen und auch keiner gegen Fremdenfeindlichkeit, das ist Jan Delays „Söhne Stammheims“(2001). Dieses Lied bezieht sich zum ersten mal nicht polemisch auf die antiautoritäre Bewegung, sondern wirft einen neuen Blick auf das Verschwinden des Terrorismus und der neuen Selbstzufriedenheit heute. Mit dieser Haltung hat Jan Delay eine Welle der Repolitisierung losgetreten, dem in den letzten Jahren viele Bands wie Wir sind Helden und Tomte folgten. Diese Bands konnten aus lizenzrechtlichen Gründen auf dieser CD keine Berücksichtigung finden.

In den neuen Bundesländern gibt es in den Neunzigerjahren nicht viel zu vermelden. Auf dieser CD wurden vier Protestsongs ausgesucht: „Willkommen Deutschland“ (1994) von den Linkssentimentalen Transportarbeiterfreunden, „Born in the GDR“ (1989) von Sandow und „Bakschischrepublik“ (1989/1990) von Herbst in Peking sind vielleicht insofern mit den westdeutschen Protestsongs gegen den Protestsong vergleichbar, indem sie gegen das Gejammer vieler Ostdeutschen polemisieren, die meinen, sie seien immer zu kurz gekommen. Das Lied „Ich mache meinen Frieden“ (1993) von Gerhard Gundermann dagegen beschreibt wohl paradigmatisch die Schwierigkeiten vieler Ostdeutscher, gegen etwas anzurennen, das eine nicht umkehrbare historische Entwicklung zu sein scheint: gegen den Untergang der DDR.

Von der Idee zur Wirklichkeit...

... gibt es sehr viele Wege, noch mehr Umwege und eine Menge Sackgassen voller Zweifel und Probleme. Am Anfang war die Euphorie und ruck zuck waren über 200 Songs gefunden - alle „unverzichtbar“, versteht sich. Doch schon beim Sammeln der Songs kamen erste Zweifel auf. Was ist ein Protestsong genau? Gibt's da eine Definition? Bislang wurde der Protestsong so gut wie gar nicht in der wissenschaftlichen Literatur behandelt. Am wenigsten - wie sollte es anders sein - in Deutschland. Alles halbgares Irgendwas und nur vereinzelt mal eine Idee von einer greifbaren These - insgesamt gefährliches Halbwissen.

So tauchten eine Menge Fragen auf, die man sich bei der Zusammenstellung einer CD mit Protestsongs selbst stellen und beantworten muss: Ist das eigentlich möglich - eine CD ohne englischsprachige Protestsongs, die in so vielen Fällen Vorbilder für die deutschsprachigen sind? Warum keine reinen Instrumentalstücke, fragt man sich, während man immer mehr Lieder mit Songtexten aussucht. Sind nicht viele elektronischen Stücke subversiver als traditionelle, eingängige Protestsongs zum Mitsingen und Mitklatschen, allein schon indem sie Hörgewohnheiten aufbrechen oder durch den Zusammenhang, in dem sie auftauchen, auf der Tanzfläche, im Club, wo es um alles andere als ums Funktionieren im Alltag geht?

Und außerdem: Hat Popmusik nicht allein schon durch den jugendkulturellen, den rebellischen Zusammenhang, in dem sie steht, widerständiges Potenzial? Oder anders herum: Lässt sich Popkultur jederzeit von der Industrie oder zu „falschen“ politischen Zwecken vereinnahmen? Ist sie von vorneherein darauf angelegt, vereinnahmt zu werden, ihre Aufrichtigkeit also auch von Protestsongs nichts als reine Show? Braucht sie gerade deshalb „explicit lyrics“?

Was ist es eigentlich, wogegen Protestsongs ansingen müssen, damit man sie als Protestsong bezeichnen darf? Die kapitalistischen Verhältnisse? Die Umweltverschmutzung? Der Rassismus? Oder kann ein Protestsong auch gegen die eigene, subjektive Lethargie protestieren, gegen den Partner, der nicht so ist, wie man ihn sich wünscht? Ist ein Protestsong, der gegen die Tradition des Protestsongs protestiert, gegen linken Jargon, übereifriges Engagement und politische Korrektheit, auch noch ein Protestsong?

Eine beschäftigungsintensive Frage war auch, inwieweit ein Protestsong ein Protestsong ist, der vorher durch die Zensur in der DDR gegangen ist. Fachleute wurden zu Rate gezogen - ohne Ergebnis. Alle Titel, die nur im Underground zur Aufnahme gelangten, waren oft von einer so gewöhnungsbedürftigen Qualität, dass von einer Verwendung (auch bei bestem Willen) abgesehen werden musste. Erschwerend kam hinzu, dass die Rechteinhaber oft nicht ausfindig gemacht werden konnten.

Doch waren das nur Probleme, die weitere mit sich brachten. Protest ist ja nicht obligatorisch immer links, die Rechten aber trotzdem nicht rechtens. Ist somit eine halbwegs seriöse „Dokumentation auf CD“ überhaupt möglich? Anders gefragt: Würden die Ärzte gemeinsam mit den Böhsen Onkelz auf einer CD sein wollen? Oder Brothers Keepers mit Störkraft? Will man solche „unrechten“ Songs überhaupt verbreiten? Möchte man das Geld eines Neonazis angenommen haben?

Überhaupt Geld! Müssen Einnahmen aus Projekten wie dieser CD nicht sowieso obligatorisch irgendeiner gemeinnützigen Institution gespendet werden, damit man später nicht als kapitalistischer Gewinnler dasteht? Darf man sich sponsern lassen und wenn ja, von wem? Am Ende bekommt man noch vorgeworfen, man hätte diese CD dazu instrumentalisiert, um irgendeiner Partei Vorschub zu leisten. Alles gruselige Gedanken, die gedacht wurden und die oft das ganz einfache Bedürfnis aus dem Blick geraten ließen, eine Dokumentation von Politik im Pop herzustellen.

Neben all diesen Zweifeln und Ängsten gab es auch noch die ökonomische Frage, in welchem Umfang man so ein Projekt veröffentlichen kann, nicht zuletzt wiederum: um grobe Lücken auszuschließen. Die Auswahl der Titel schrie nach einer CD-Box mit zehn CDs. Aber das wäre nicht zu finanzieren gewesen, allenfalls vielleicht mit Hilfe einer Major Company, aber die haben ja ganz andere Interessen und Probleme. Dann die Idee einer Vorwende-Doppel-CD mit Osten, einer Vorwende-Doppel-CD mit Westen und einer Nachwende Doppel-CD. Doch wer hätte so etwas gekauft? Wie viele Ostdeutsche hätten sich für westdeutsche Vorwendesongs interessiert? Oder anders herum? Am Ende hätten nur junge Leute die Nachwende Doppel-CD gekauft und die beiden anderen Doppel-CDs hätten in den Plattenläden Staub angesetzt. Dann lieber doch eine einfache Doppel-CD, wie sie hier und jetzt vorliegt, eine Nachwende-CD und eine mit Klassikern und Kuriosem aus der Vorwendezeit. Lieber konsequent scheitern, als sich am Ende auch bei einer CD-Box mit 10 CDs sagen zu lassen: Dieser und jener Titel fehlt noch immer.

Nach rund einem Jahr Recherchen, Überlegungen und schweren Entscheidungen (bedingt durch das Problem auch mal Geld für die Miete, Kaffee und Kuchen zu verdienen) kamen Probleme ganz neuer Art: Einige der Songs, die es nun in die engste Auswahl geschafft hatten, konnten nicht lizensiert werden. Bei einigen sperrten sich speziell die Firmen EMI und WEA. Die Begründungen, die oft erst nach Monaten kamen, waren oft ominös. Ein paar Beispiele: „Die zu erwartende Auflage enthält keinen relevanten Gewinn für uns.“ Oder: „Die Band will nicht“.

An der ersten Begründung mag ja noch etwas dran sein - Verkaufszahlen, wie sie Compilations à la „Deutschland sucht den Superstar“ oder „Kuschelrock“ erzielen, waren für die „Protestsongs“ auch bei euphorischsten Schätzungen nicht zu erwarten. Die zweite Begründung war schlichtweg verlogen. Die Gruppe BAP und Samy Deluxe wussten beispielsweise gar nichts von einer Anfrage und erst, als sich das Management von BAP einschaltete, konnte die Firma (in diesem Fall EMI) umgestimmt werden. Allerdings folgte folgender Hinweis: „Kontaktieren Sie niemals mehr unsere Künstler direkt. Die müssen nicht von allem etwas wissen. Eine zukünftige Zusammenarbeit mit Ihnen ist unwahrscheinlich.“ Das Management von Samy Deluxe konnte sich dagegen, wie es scheint, leider nicht durchsetzen.

Bei Blumfeld verhielt sich die Sache anders herum. Auf die Lizenzanfrage reagierte der Chef ihrer Plattenfirma von What's So Funny About, Alfred Hilsberg, wie folgt: „Brauchen wir gar nicht erst fragen. Die wollen das eh nicht.“ Ob er Recht hat, ließ sich nicht ermitteln. Und noch mehr verwunderliche Reaktionen gab es. Wolf Biermann, ein Künstler, der für diese CD nun wirklich unverzichtbar erschien, war laut Auskunft der Plattenfirma nur über eine geheimnisvolle Faxnummer zu erreichen. Irgendwann kam das Originalfax mit der Lizenzanfrage zurück. Handschriftlich eingefügt war lediglich die Frage, wie viel man an dieser CD verdienen könne. Auf die Antwort, dass es die „handelsüblichen Prozentsätze“ gäbe, kam keine Antwort mehr, auch mehrere Nachfragen via Fax blieben bis heute unbeantwortet. Ähnlich kurios war die Suche nach den Rechteinhaber bei Joseph Beuys' Songs „Sonne statt Reagan“. Dieser Song wurde zwar ordentlich aufgenommen und veröffentlicht, doch konnte keiner der heute noch lebenden Beteiligten sagen, wer jetzt Lizenzberechtiger ist. Der Kommentar einer der Beteiligten: „Damals hatte man einfach die Idee zu so einem Projekt, ist ins Studio gegangen und hat es gemacht! Über Verträge hat sich keiner Gedanken gemacht.“ Ganz im Gegenteil zu dem ebenfalls enthaltenen Song von Brothers Keepers, wo sich erst Monate lang Manager und Rechtsanwälte über die Lizenz- und Rechteverteilung stritten, bevor der Song zustande kam.

Sehr amüsant und beinahe goldgräberstimmungsmäßig wurde es schließlich bei Wolf Maahns „Tschernobyl“. Dieser Titel war 1986 wochenlang in den Charts, jeder, der damals schon auf der Welt war, wird sich an ihn erinnern, doch ist er inzwischen rechtlich durch so viele Hände gegangen, dass es erst einer komplizierten Vertragsdurchsicht bedurfte und schlussendlich zu einer Ausnahmevereinbarung kommen musste. Doch nicht genug. Bald stellte sich heraus, dass der Titel nicht, wie inzwischen jeder drittklassige Hit aus den Achtzigern, bisher auf CD erschienen ist. Umständlich musste erst das Originalband ausfindig gemacht und digital nachbearbeitet werden, damit dieser Song den auf die CD finden konnte.

George Lindt

Lieblingslied Records

Weitere Veröffentlichungen von Lieblingslied:

DVD - Berlin Digital: a guide through the electronic music scene (2004)

"Berlin Digital über die Berliner Elektronik-Szene ist eine beispielhafte Kulturdokumentation" Frankfurter Rundschau

CD - Liebe & Herzschmerz (2001)

"Nun, da Popmusik mit deutschen Texten doch noch zu Ruhm und Respekt gelangt ist, war diese Platte eigentlich fällig: eine Doppel-CD. Zusammengestellt wie eine wahnwitzige, aber brilliante Kassette für Verliebte und Verlassene. Der Spiegel

Crossover oder die Hölle? Die Leidenschaft schlechthin. Sehr mutig, so viel Gefühl zu zeigen. Konkurrenzloses Meisterwerk. Taz

Lieder können richtig gut Freunde werden. Weil man nie wissen kann, wie die Zeiten werden, sollte man solche Freunde immer bei sich haben. Ein perfekter Begleiter durchs Leben ist diese Doppel CD... Mitfühlender geht es nicht. Elle

Eine wunderbare Doppel-CD mit dem Besten aus der alternativen deutschen Musikszene. Unter anderem mit Fünf Sterne Deluxe, Keimzeit, Rio Reiser, Rosenstolz, Die Ärzte und der großartige Bernd Begemann singen Songs über gebrochene Herzen. Brigitte

CD - Familienangelegenheiten aus Berlin (2000)

"Die Berliner Musikszene kocht: "Familienangelegenheiten aus Berlin" ist der Spiegel dessen, was man von anderswo nur erahnen kann..." Süddeutsche Zeitung

"Sie wollten schon immer mal wissen, was es mit der Mitte des neuen Berlin auf sich hat?...Hier ist der Soundtrack zum Trend..." ZDF-Aspekte

"So viel Liebe muß unterstützt werden..." Spex

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